„Ich war dem System dankbar“
Eine Begegnung mit dem ungarischen Schriftsteller und Dissidenten, der in Leipzig mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde.
Das Café „Völkerfreundschaft“ am Senefelder Platz ist der passende Ort für das Gespräch mit einem ehemaligen Dissidenten aus Ungarn. Historisches Material mit sanfter Ironie in die Gegenwart zu transportieren, entspricht der Schreibweise von György Dalos, der nachmittags, wenn es ruhig ist, gerne hier her kommt. Ruhe ist wichtig für das Gespräch mit ihm, denn er spricht leise, fast flüsternd, und mit starkem ungarischem Akzent. Er wirkt scheu und zurückhaltend und sehr ernst. Nur einmal lässt er die Andeutung eines Lächelns erkennen. Dass er nun mit dem „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ ausgezeichnet wird, zerrt ihn ins Licht der Öffentlichkeit, das er kaum gewohnt ist. Und doch könnte diese Auszeichnung keinen Geeigneteren treffen als ihn. Dalos hat sich nicht nur als Schriftsteller und Übersetzer um „Völkerfreundschaft“ verdient gemacht, sondern auch als kultureller Vermittler, etwa als Leiter des ungarischen Kulturinstituts Berlin in den neunziger Jahren oder als einer der Herausgeber der Wochenzeitung „Freitag“. „In Deutschland bin ich eindeutig bekannter als in Ungarn“, sagt er. In seiner Heimat war er vor 1989 lange Jahre verboten. Das wirkt nach: „Ich bin dort an der Peripherie geblieben.“
In Anspielung an Brecht bezeichnet er sich als einen „lesenden Intellektuellen“. Das umfasst den Romanautor ebenso wie den Essayisten und den Historiker. Die Leselust der alten Caféhauskultur ist ihm in Budapest und Wien, wo er 1987 als Korrespondent lebte, ins Blut übergegangen. Er liest Zeitungen verschiedener Sprachen und durchforstet sie nach Stoffen, die er literarisch verarbeiten und mit eigenen Erfahrungen in Verbindung bringen kann. „Was ich beschreibe, habe ich miterlebt, so wie in meinem letzten Buch. Das ist nicht einfach historischer Stoff, sondern ziemlich persönlich.“
György Dalos, 1943 geboren, ist kein normaler Dissident. Zum einen, weil er jüdischer Herkunft ist, zum anderen, weil er nicht vergessen hat, einmal überzeugter Kommunist gewesen zu sein. Sein Vater, im 2. Weltkrieg als Jude zwangsrekrutiert, starb 1945 an Tuberkulose. „Ich komme aus einer zusammengeschrumpften Familie mit vielen toten Verwandten“, sagt Dalos. „Judentum war in meinem Leben zunächst ein enormes Wissen über solche Geschichten.“ Bis er zwölf war, wuchs er in verschiedenen jüdischen Internaten auf, wurde religiös erzogen und lernte Hebräisch. „Als ich Atheist wurde, habe ich von meinem jüdischen Gott Abschied genommen. Ich habe aber keinen Augenblick meines Lebens vergessen, dass ich jüdischer Abstammung bin.“ Dass er ausgerechnet in Deutschland heimisch geworden ist, hält er für einen Vorteil: „Hier sind die Verhältnisse klar. Man weiß, was geschah, und man will, dass Menschen, die aus dieser Vergangenheit kommen, integriert werden.“ In einem seiner Essays formulierte er es etwas vorsichtiger. Seine jüdischen Urängste sagten ihm, dass es nicht gleichgültig sei, was hier passiert.
Als Jugendlicher aber wünschte er sich, sein Judentum loszuwerden, um nicht länger Außenseiter zu sein. Sein autobiografischer Roman „Die Beschneidung“ handelt von diesem Konflikt. „Ich wollte Kommunist werden, weil der Kommunismus versprach, die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden aufzulösen. Das war ein großzügiges Angebot: Du kannst Ungar sein, ohne dich demütigen lassen zu müssen, dass du kein Ungar bist. Das war eine moralische und eine soziale Verheißung. Ich komme aus einer sehr armen jüdischen Familie. Dass ich studieren konnte, war ein Beweis dafür, dass Leute von unten nach oben kommen können, so wie es die Kommunisten versprachen. Und noch etwas: Als lungenkrankes Kind wurde ich in einem staatlichen Sanatorium behandelt. Dort konnte ich alles essen, was ich wollte. Auch das ist eine Systemerfahrung. Man wollte nach dem Zweiten Weltkrieg die Tuberkulose ausrotten, das ist gelungen. So was hat einen an das System gebunden. Noch als Oppositioneller in den siebziger Jahren verspürte ich eine unverarbeitete Dankbarkeit gegenüber dem System.“
Bevor er 1977 zu den Aktivisten der ungarischen Demokratiebewegung gehörte und 1989 ohne große Begeisterung den Kollaps des Systems miterlebte, hatte er schon einige Wandlungen hinter sich. Vielleicht ist er so etwas wie ein ungarischer 68er. Damals, 1968, wurde er als maoistischer „Linksabweichler“ vor Gericht gestellt und erhielt sieben Monate auf Bewährung – ein glimpfliches Urteil, obwohl doch zu den Richtern immer noch solche gehörten, die 1956 nach dem Volksaufstand terroristische Urteile ausgesprochen hatten. Aber das war nicht alles. Schlimmer waren die Konsequenzen, die nicht im Urteil standen: Reiseverbot, Publikationsverbot, Schikanen aller Art. Alle Karrieremöglichkeiten für ihn als einen Kader, der in Moskau deutsche Geschichte studiert hatte, zerschlugen sich damit. Er musste sich keine Gedanken mehr um Kompromisse und vorsichtiges Lavieren machen. Selbst die Zensur, die ja immer auch Selbstzensur ist, störte ihn nicht mehr: „Ich war sowieso verboten. Ich als Person.“
Wie wurde man in Ungarn zu einem Maoisten? „Aus Enttäuschung. Wir suchten eine bessere Sowjetunion und fanden China. Das war weit weg. Dort konnten wir die Ideologie nicht an der Wirklichkeit überprüfen. Als ich später westliche Zeitungen las, war ich erstaunt über unsere politische Unkenntnis. Das war spätpubertär. Aber ich bin bis heute zufrieden damit. Wir haben zwar Falsches gedacht, aber nicht dasselbe Falsche wie die Offiziellen. Als moralische Auflehnung war das völlig angebracht.“
Obwohl er sich heute nicht vorstellen kann, wieder in Ungarn zu leben, hat ihn das Land nie losgelassen: „Das ist das einzige Land, das bei mir zur Blutdruckfrage wird.“ Den politischen Auseinandersetzungen dort, dem grassierenden Antisemitismus, dem nationalistischen Chauvinismus der neuen Rechten, möchte er sich jedoch nicht aussetzen: „Ich bin keine kämpferische Natur“. Ein melancholischer Ton ist unüberhörbar. Er gehört, neben der Ironie, zur ungarischen Grundstimmung, wie Dalos sie in seinen Essays herausarbeitet. In keinem Land Europas gab es in den siebziger und achtziger Jahren eine höhere Selbstmordrate, schreibt er. Aus solchen Fakten gewinnt er seine Erkenntnisse. Das Kapitel über Polen in seinem die Länder Osteuropas vergleichenden Buch über das Jahr 1989 konnte er nicht schreiben, bevor er nicht wusste, wie der Runde Tisch aussah und wer dieses Möbelstück getischlert hat. Die Freude am sprechenden Detail, das Interesse für das alltägliche Leben sind es, die seine Bücher so lesenswert machen.
An sich selbst nimmt er Melancholie und Ironie nicht mehr wahr, so sehr gehören sie zu ihm. „Ich bin so. Das kommt auch aus der jüdischen Tradition. Deshalb bin ich auch ein wenig sentimental.“ Als junger Kommunist habe er großspurig in großen philosophischen Zusammenhängen gedacht. Die Arbeiterbewegung hatte ihr eigenes Pathos. „Privat war ich aber ironisch. Ich kämpfte jedoch heroisch gegen jeden Humor und jede Ironie in mir.“ Auch heute ist seine Ironie dezent, niemals vordergründig. Sie ist eher in seinen Texten zu finden als im Gespräch. Vielleicht besteht sie auch nur in der besonderen Aufmerksamkeit für ironische Verhältnisse in der Wirklichkeit. Wenn Dalos einen Satz ungarischer Politiker aus dem Jahr 1988 aufspürt – „Unser Ziel ist die Verlangsamung der Beschleunigung der Verschlechterung“ –, merkt man, dass ihn das fröhlich macht. Was diesen Satz vom Merkel-Deutsch der Gegenwart unterscheidet, das wäre allerdings auch eine Untersuchung wert.
Text: Jörg Magenau
zuerst erschienen in Tagesspiegel vom 17.03.2010
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