Einfühlsame Tierbeobachtungen
Erstmals erscheinen die „Erinnerungen eines Insektenforschers“ von Jean-Henri Fabre vollständig auf Deutsch. Dabei zeigt sich, dass der Autor nicht nur Forscher mit der erforderlichen wissenschaftlichen Akribie ist, sondern vor allem auch ein Beschreibungskünstler und leidenschaftlicher Erzähler.
Die gelbflügelige Grabwespe gehört nicht zwangsläufig zum bevorzugten Interessensgebiet der gebildeten Mittelschicht. Auch die Prachtkäfer tötende Knotenwespe ist mit ihrem Beuteschema nicht unbedingt jedermanns Sache. Doch auch wer glaubte, ohne genauere Kenntnisse über die Brutpflegegewohnheiten der Mörtelbiene auszukommen, sollte nicht versäumen, Jean-Henris Fabres „Erinnerungen eines Insektenforschers“ zu lesen.
Denn Fabre ist nicht nur Forscher mit der erforderlichen wissenschaftlichen Akribie und Detailbesessenheit, sondern vor allem auch ein Beschreibungskünstler und leidenschaftlicher Erzähler. Seine „Erinnerungen“ umfassen zehn Bände, von denen nun endlich – mit 130-jähriger Verspätung – der erste auf Deutsch erschienen ist. Der Verlag Matthes & Seitz wagt sich an die überfällige Gesamtausgabe dieses wunderbaren Werkes, das hierzulande bisher nur in Auszügen zugänglich war.
Was macht Fabre so außergewöhnlich? Zunächst einmal, dass er „ich“ sagt. Er schreibt also nicht im Gestus des objektivierenden Wissenschaftlers, sondern im Tonfall eines Berichterstatters, der auch sich selbst im Blick hat. Er weiß, wie seltsam er auf andere wirkt, wenn er stundenlang bewegungslos vor einem Sandhaufen sitzt und hofft, dass die Kreiselwespe sich noch einmal zeigt. Sein besonderes Interesse gilt der Untersuchung des Instinktes, der die Insekten wahre Wunder vollbringen lässt.
Er bewundert die chirurgische Präzision, mit der die Knotenwespe den Käfern, die sie als Nahrung für ihre Larven erlegt, exakt ins Brustganglion sticht, um sie so zu lähmen und als hilflose Beute in ihren Bau zu schleppen. Zugleich wehrt er sich gegen vermenschelnde Betrachtungsweisen, die den Tieren Lernfähigkeit und so etwas wie Vernunft zusprechen wollen oder aber moralisch auf die Grausamkeit der Natur reagieren.
Seine Versuchsanordnungen belegen, dass die Tiere nur innerhalb der Grenzen des Instinkts „klug“ handeln, mit Abweichungen von der Regel aber nicht umgehen können und zugrunde gehen. Mit Skepsis betrachtet Fabre deshalb auch die Evolutionstheorie von Charles Darwin – mit dem er brieflich korrespondierte. Wie lässt sich etwa der farbige Schmuck der Prachtkäfer erklären, wenn er doch keinen Überlebensvorteil bietet, sondern einfach nur „schön“ ist? Und wie entstehen Instinkte als gespeicherte Erfahrung?
Fabre feiert das Leben in seiner Vielfalt und wunderbaren Komplexität und bestaunt die filigrane Konstruktion der Insektenleiber. Er interessiert sich für die Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum. Sein Grundprinzip lautet: „Es ist sinnlos, mir zu sagen, dass eine bestimmte Art so und so viele Haare am Bauch oder am Brustteil hat; ich kenne das Tier erst, wenn ich seine Lebensweise, seine Instinkte und sein Verhalten kenne.“
Es ist sicher kein Zufall, dass mit dem Entomologen Friedrich Koch ein ehemaliger Landpfarrer Fabres Werk für sich entdeckte, übersetzte und dem Verlag zuspielte. Auch bei Fabre ist ein theologischer Grundzug in der Bewunderung der Schöpfung spürbar. Seine „Erinnerungen“ sind eine literarische Kostbarkeit und ein großes Lesevergnügen. Wer den ersten Band ausgelesen hat, freut sich schon auf das Erscheinen des nächsten.
Text: Jörg Magenau
aus: Radiofeuilleton, Kritik, © 2010 Deutschlandradio, (27.05.2010)
Jean-Henri Fabre: Erinnerungen eines Insektenforschers. I.
Aus dem Französischen von Friedrich Koch.
Matthes & Seitz, Berlin 2010, 292 Seiten, 36,90 Euro
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