Das faschistische Subjekt
Eine Welle deutscher Filme über die NS-Zeit rollt auf uns zu. Jetzt geht es um Hitler und Goebbels persönlich. Das Politische ist nicht mehr wichtig
Das Unmögliche, das doch offenbar immer wieder versucht werden muss: den Faschismus, seine Verbrechen und die Leiden seiner Opfer in einer Weise darstellen, die in der medialen Mitte unserer Kultur ankommt, in den populären Erzähl- und Bildmaschinen. Wir haben, was das anbelangt, eine über fünfzig Jahre alte Geschichte des moralischen und ästhetischen Scheiterns hinter uns. Die Erzählungen von Hitler und seiner Gefolgschaft, vom KZ, vom Krieg, all die Comics und Fernsehserien, die Reportagen und Kinofilme, sie taumelten zwischen Blasphemie und Ideologie, zwischen Verharmlosung und Monstrosität. Wie es scheint, kommt die kollektive Fantasieproduktion zur Nazivergangenheit in Wellen über uns. Die jüngste baut sich gerade auf mit Bernd Eichingers Produktion Der Untergang. Im wenigen Monaten werden Schlöndorffs Der neunte Tag und Hachmeisters Das Goebbels-Experiment über uns kommen; und zwischendurch stehen noch andere, weniger spektakuläre Filme auf dem Programm, darunter Andrea Morgenthalers dreiteilige Fernsehdokumentation Joseph Goebbels.
Das liegt, sagt man, in der Luft. Wer ins Kino geht, um den Untergang zu sehen, ist bereits voll gestopft mit Fragmenten der vorauseilenden Medien-Multiplikation, professionell aufdringlich wie bei einem Hollywood-Blockbuster, aufgeladen mit der verklemmten Lüsternheit, die unsere Kultur alle sechs, sieben Jahre überkommt, wenn Hitler wieder angesagt ist. Nach zehn Minuten hat einen der Film dann doch gepackt. Er funktioniert, er hat seine starken Momente (Hitler, der seine letzte vegetarische Mahlzeit löffelt, Magda Goebbels, die ihre Kinder ermordet), und er bleibt innerhalb der Grenzen des guten Geschmacks. Erst am Ende des Films, bei der Flucht von Traudl Junge, Hitlers Sekretärin, aus deren Blickwinkel man die letzten Tage im Bunker erlebt hat (Wem müsste man zum Inhalt von Der Untergang noch etwas sagen?), kommt man wieder zu sich. Der Film hat uns sicher geführt. Aber wohin?
Vorhang auf für das Remake des Remakes des Remakes
Andere Frage: Was kann eine Fiktion an Erkenntnis bringen, wenn sie sich nicht dorthin wagt, wo die Dokumente, wo die Logik der Historiker eben nicht hinreichen? Die Fiktion kann zwei einander widersprüchliche, in der Welt der Tatsachen nicht notwendig vorhandene Elemente erzeugen, Erklärung und Sinn. Was eine Fiktion indes nicht kann oder will, ist etwas zu beweisen. Eine Erzählweise, in der nicht zwischen Geschichte und Fiktion unterschieden wird, darf man mythologisierend nennen. »Mythos Hitler« zum Beispiel ist eine Lieblingsfloskel der Medien, wenn es darum geht, den jeweils neuen Bilderbrei anzurühren aus Geschichte, Erinnerung und Fiktion.
Der Untergang zielt in seinem Bemühen um historische Genauigkeit, um eine Art Eins-zu-eins-Umsetzung der Quellen, auf das Gegenteil der Mythologisierung. Er baut auf zwei anerkannte Zeugnisse des Authentischen: einmal die Augenzeugen-Authentizität von Traudl Junges Bericht (bewährt schon in der Vorbereitung von Georg Wilhelm Pabsts Film Der letzte Akt aus dem Jahr 1955), die uns eine zugleich unschuldige und intime Perspektive liefert – nah beim Führer und doch nicht Teil seiner Verbrechen. Zum anderen baut er auf die nicht minder populäre Authentizität der historischen Studien von Joachim C. Fest, dem »Hitler-Kenner«, wie es in der Zeitung heißt. Das ergibt, zusammen mit Bruno Ganz‘ Schauspielkunst, eine perfekte Umklammerung des Wirklichen. Das Bild, dem man nicht mehr widersprechen kann, das Paradox eines »authentischen Mythos«.
Vielleicht muss ja für jede Mediengeneration das jeweils angemessene Hitler-Bild in den Hauptfluss der populären Mythologie eingeschrieben werden, und Ganz, der den Führer diesmal tatsächlich jenseits von Dämonie und Karikatur als Bild des Unmenschlichkeit produzierenden Menschen gibt, liefert es für die Post-Postmoderne. Es geht hier weder um Abstraktion noch um Analyse, weder um doppelte Codierungen noch um psychologische Brechungen, sondern um distanzloses Dabeisein: die Aufhebung der Differenz zwischen Blick und Bild. Hier wird der Hitler für die Kinder von CNN, Big Brother und Political Correctness kreiert. »Das ist wirklich Hitler«, bemerkte anerkennend Joachim C. Fest. Dieser Hitler ist in Wahrheit die Summe aller unserer Bemühungen, ein einheitliches Bild zu erzeugen, die Summe dessen, was wir aus dem Scheitern gelernt haben. Es ist ein Hitler, dessen Bild vollständig zusammengesetzt ist, das Remake des Remakes des Remakes, immer perfekter und immer leerer. Es lässt keine Frage offen, weil es gar keine mehr stellt.
Aber vielleicht ist auch dies nur neue Maske. In seiner Tiefenstruktur besteht Der Untergang aus drei letzten Akten: Der erste beschreibt die Isolation der Hauptschuldigen und das Entkommen der anderen. (Was mag Eichinger und Hirschbiegel nur zu diesem sympathischen Bild von Albert Speer bewogen haben?) Hitler verdammt sein Volk, das sich als zu schwach erwiesen hat. Das ist sehr praktisch. Vor der endgültigen Opferung gibt der Führer gewissermaßen seine Gefolgsleute frei. Im Selbstmord kommt das Böse zu sich und erlangt gleichzeitig Würde. Schließlich folgt die deutsche Erlösung und Wiedergeburt als Flucht der Sekretärin durch die Reihen der Roten Armee, denen die Flüchtende unter keinen Umständen in die Augen sehen darf. (Aber warum muss Traudl Junge durch die Reihen der Rotarmisten an der festen Hand jenes Nibelungen-blonden Jungen geführt werden, der eben noch von Hitler selbst mit dem Eisernen Kreuz dekoriert wurde?) Offensichtlich weigert sich der Film, den Untergang des Faschismus als eine Befreiung zu sehen. In seiner mythischen Tiefenstruktur konstruiert er stattdessen Kontinuität: der Hitlerjunge, der sich von seinem Wahn befreite, und die Sekretärin des Führers, die am Ende doch das Leben wählte (im Gegensatz zur dunklen Muse Hanna Reitsch), fliehen vor der neuen Gefahr aus dem Osten – ein perfides Bild für eine deutsche Selbstbefreiung. Je genauer man diesen Film ansieht, desto mehr erweist sich seine Korrektheit als Maskerade. Eichingers Relektüre des Faschismus ist eine verdrehte Wiederkehr von Kriemhilds Rache (mit der Roten Armee als Hunnen).
Am neunten Tag kehrt der freigelassene Priester ins KZ zurück
Auf den ersten Blick ist Volker Schlöndorffs Film Der neunte Tag diesem Mythenbrei überlegen. Es handelt sich um konzentriertes, bescheiden budgetiertes morality play, so wie es einst das Fernsehen liebte, da man so den Terror zeigen kann, ohne sich in die Fallen der Abbildungsverbote zu begeben. Der Film beginnt durchaus heftig mit der Schilderung des Leidens einer Gruppe von Priestern im KZ Dachau. Ein Kreuz wird draußen errichtet, ein Mann mit Dornenkrone wird daran aufgehängt. Dann wird der Häftling Abbé Henri Kremer entlassen, auf »Urlaub«, offiziell, um seine Mutter zu beerdigen, in Wahrheit aber will Untersturmführer Gebhard ihn instrumentalisieren, um beim Bischof eine Ergebenheitsadresse für die Nazis zu erwirken. Auf dem Spiel steht für Kremer neben dem eigenen Leben das seiner Familie und das seiner geistlichen Brüder im KZ. Die Familie möchte ihm zur Flucht verhelfen, der Bischof kann ihm in seiner Not nicht anders beistehen als durch eine Erklärung der vorsichtigen Haltung des Vatikans, und Gebhard versucht ihn mit einer Mischung aus Drohungen, Lockungen und theologischen Sophistereien zum »Judas« zu machen. In das Kammerspiel zwischen dem Nazi und dem Priester mischen sich Elemente des Mysterienspiels: Eine Überblendung führt von einer KZ-Szene zu einem trauernden Marmorengel auf dem Friedhof, und als der Sekretär des Bischofs Kremer von der Beichte des zu den Nazis konvertierten Priesters Gebhard erzählt, läuten im Hintergrund die Glocken.
Am neunten Tag kehrt der Abbé wieder ins Lager zurück. Es ist sein persönlicher Triumph, der alle Konflikte zum Verschwinden bringt. Der Film basiert auf dem Tagebuch Pfarrblock 25387. Dachau 1941-1942 des luxemburgischen Priesters Jean Bernard. Die Genauigkeit, mit der Bernard die grausame Ordnung des Lagers beschreibt, ist aber bloß eine seiner Stärken, die andere ist seine Absicht, mit der Kirche Frieden zu schließen, für die (und ohne deren Beistand) die Männer im Pfarrblock des KZs leiden mussten. Schlöndorff reißt den theologisch-historischen Disput zwar an, die Kritik an einer feigen Kirche, die, wo sie nicht beredt schwieg, Menschenleben gefährdete, bleibt allerdings rhetorisch. Die Revision von Rolf Hochhuths Stellvertreter steht als erzählerische Nebenabsicht dem morality play im Weg. Die Lösung ist auch hier der Rückzug ins Individuelle: Der Abbé muss sich ganz allein entscheiden, und in den letzten Einstellungen sehen wir (zu) deutlich, dass ihn diese Entscheidung innerlich zu einem glücklichen Menschen gemacht hat. Anders als Hirschbiegel verhält sich Schlöndorff dabei diskret gegenüber seinen Figuren. Die Kamera weiß, dass sie das Leid zeigen muss und es nicht ausbeuten darf. Aber auch dieser respektvollen Darstellungsweise fehlt eine höhere Absicht. So wie Der Untergang »beweist«, dass man Hitler als Mensch zeigen kann, so »beweist« Der neunte Tag, dass man zwölf Minuten lang KZ-Szenen zeigen kann.
Die Täter und die Opfer: Wir sollen uns ihre persönlichen Schicksale anschauen, weil wir nicht mehr an das Politische glauben. Auch Lutz Hachmeisters Dokumentarfilm Das Goebbels-Experiment scheint ganz gezielt dafür konstruiert, ein Abbildungsverbot zu überwinden und zum guten Kern des Menschen hinter der Maske des Bösen zu gelangen. Ist es nicht sonderbar, dass es in der PR-Arbeit zu allen drei Filmen heißt, »so etwas« habe man vor zehn Jahren noch nicht machen können? Auch bei Hachmeister wird, diesmal mit den Mitteln der dokumentarischen Komposition, an einer authentisch abgesicherten Annäherung an den Menschen gearbeitet, der bislang nur Karikatur oder Dämon war. Und auch hier wird der Anteil der Fiktion eher verschleiert, ist die Montage der Bilder und Texte fließend und assoziativ. Der Film verbindet Textpassagen aus den Tagebüchern von Joseph Goebbels mit Filmdokumenten, die gleichsam aus dessen Perspektive aufgenommen sind, und unterlegt das Ganze mit einer durchweg emotionalisierenden Musik. So verwandelt der Regisseur sein Material in eine Urform des Melodrams. Anders als Eichingers Hitler-Film bewegt uns freilich dieses Psychogramm eines sich selbst als unglücklich, mehr noch: verunglückt empfindenden Menschen, der die ersehnte Zuwendung seiner Kameraden nur erhält, wenn er noch mehr Hass erzeugt als diese. Hier wird klar, der Faschismus führt nicht nur in den Untergang, er ist Untergang.
Wir sollen die Welt mit den Augen von Joseph Goebbels sehen
Von Anfang an setzt der Regisseur sein Material unter Druck, nirgendwo lässt er eine Lücke, nirgendwo dem Zuschauer Zeit zum Atemholen. Wenn nicht gesprochen wird (mit Udo Samels tückisch sanfter Stimme), muss man eingeblendete Text lesen oder Bildwechsel verarbeiten. Zwar wirkt die Regie auf diese Weise einem nostalgischen Genuss der Zeitbilder entgegen, aber ein solcher Subjektwirbel lässt dem Zuschauer keine Chance zum Nachdenken. In dem Bemühen, die Methoden des Genres zu entlarven, infiziert sich der Film an ihnen. Immer wieder scheinen gegenwärtige Bilder der Orte zwischen den historischen Dokumenten auf. Diese merkwürdige Obsession hat sich schließlich auch bei der Vermarktung des Films fortgesetzt, seine Uraufführung fand in Goebbels‘ Wochenendhaus am Bogensee statt. Wozu?
In allen drei Fällen geht es um eine strategische Begrenzung des Zuschauerhorizontes, die auf die Überwindung eines Abbildungsverbotes folgt. Wir sollen nicht mehr von außen auf den Faschismus schauen, sondern in die Innenräume seiner Herrschaft, seiner Krankheit, seines Terrors. Die Filme gieren nach dem faschistischen Subjekt. Vielleicht geht das Goebbels-Experiment dabei am kühnsten vor, indem es auf moralische Gewissheit vollständig verzichtet. Wir sollen die Krankheit des Systems erkennen, indem wir für eine Zeit mit Goebbels‘ Gehirn denken und mit seinen Augen sehen. Aber versteht man die Hitlerei besser, wenn man dem Hitlermann hautnah kommt? Erweist man dem Opfer einen Dienst, indem man es als Einzelnen beschreibt und seinen faschistischen Gegenspieler als terroristisch verunglücktes Spiegelbild?
Wir bilden uns ein, wir hätten die Kontrolle über die Bilderwelten. Der assoziative und beschleunigende Schnitt, der sich immer der Musik versichert, macht den Goebbels-Film der MTV-Sprache kompatibel. Unbekümmert zitiert er nahezu alle Filmsprachen, von Eisenstein über die Ufa bis zum amerikanischen Propaganda-Trickfilm, und kehrt doch immer wieder zur Tautologie zurück: »Ich sitze zu Hause und arbeite« lautet der Tagebuch-Eintrag, und man sieht Goebbels (im Propagandafilm) zu Hause sitzen und arbeiten. Das Bild ist das Bild – oder?
Die nächsten Filme sind schon gedreht, Napola sowie Speer und Er warten auf ihren Einsatz. Man mag es für Zufall halten oder nicht: Das Interesse gilt allem Anschein nach mehr den Inszenierungen der Täter als dem Leiden der Opfer. Anfang Oktober wird Christian Duguays Zweiteiler Hitler – Aufstieg des Bösen gezeigt, eine Koproduktion zwischen CBS und RTL II, die sich gar nicht schämen will, den Diktator im Rahmen einer Soap-Opera abzubilden. Hitler ist wieder einmal angekommen im Zentrum unserer Bildermaschinen. Bis zur nächsten Betriebsstörung.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in Die Zeit
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