Schönes München – Stillstand
Herbert Achternbusch alias Hick ist ein Obdachloser in München. Er nimmt, wie’s scheint, sein Schicksal mit einer Art zorniger Gelassenheit hin. Die erste Szene zeigt ihn, wie er frühmorgens über den Marienplatz schlurft, und schon begegnet er auch dem ersten von vielen Polizisten, die in diesem Film mitspielen werden. Mit-Spielen, das heißt: sie werden Teile eines politisch-ästhetischen Systems, das sich bald von ihrem Urheber entfernt. Hick malt ein Schild, auf dem um die Befreiung von Helmut Kohl gebeten wird. „Wer befreit mich von Helmut Kohl? Das Volk kann es nicht. Er selbst kann es nicht.“ Zwei Polizisten müssen das Objekt der Ein-Mann-Demonstration bewachen, während Hick seiner Wege geht, denn er muss austreten, was man so oder so verstehen kann. Er bekommt auf seiner Bank Besuch von Frauen aus seinem Leben und von Reporterinnen internationaler Medien, die ihn nach seinem Projekt befragen, während wechselnde Polizistenpaare über ihre Aufgaben und vor allem über mögliche Teilungen Deutschlands reden. Vielleicht könnte man die Schweden für Niedersachsen interessieren. Eines steht jedenfalls fest: „Deutschland gibt es nur in den Köpfen.“ Aber was heißt schon „nur“. Am Ende erlebt Hick das Glück mit seiner kleinen Tochter, und die letzten beiden Polizisten gehen ins Wirtshaus. Wohin auch sonst. Dazwischen träumt der Film von der Geschichte der Menschheit. Sie wird bewegt durch besondere Arten des Stehens, des Trinkens und des Einander-Watschens. Vor allem aber besteht sie aus sehr schön (von Achternbusch selbst) bemalten nackten Menschen.
NEUE FREIHEIT ist eine Kammerspiel-Film, insofern er von den Münchner Kammerspielen verwirklicht wurde, deren Ensemble zu einem guten Teil im Film auftritt, und insofern es sich tatsächlich um so etwas wie ein expandiertes Theater handelt. Man ist zwar mittendrin in der gewöhnlichen Münchner Realität, und die Menschen aus der gewöhnlichen Münchner Realität spielen auch mit. Aber man hat auch immer sozusagen eine unsichtbare Bühne mit dabei. Für die Zukunft der Film-Kunst ist dies vielleicht ein durchaus praktikables Modell – eine ästhetische und organisatorische Allianz, sich gegen die populistischen Zwänge der Kinokultur zur Wehr zu setzen und die Beschränkungen beider Kulturen zu überwinden. Achternbuschs Filme gewinnen im Theater. Im Kino, mit den Popcorn-Maschinen, den Trailern und der Kultur der Flüchtigkeit müssen sie so verloren sein wie unter dem Blick einer Kritik, die sie im falschen Zusammenhang jenes Kinos sieht, das uns mit Verlässlichkeit und Überwältigung in die Sessel drückt. Überhaupt scheint es mir ein Trugschluss, dass die Zukunft von jeder Art von Film unbedingt im Kino liegen muss.
Dabei ist NEUE FREIHEIT alles andere als „schwierig“. Es ist gerade die radikale Einfachheit, die Offenheit seiner Kompositionstechnik und die Reinheit seiner Botschaft, was diesen Film zu einem der schönsten des Autors macht. Jacques Tati hat am Ende seiner Laufbahn von einem Film geträumt, in dem seine Figur, der Monsieur Hulot, nur noch am Rande, als Anstoß für eine Kette von Ereignissen vorkommen würde und sich ansonsten immer weiter zurückzöge. Eben dies geschieht mit Hick in Achternbuschs Film: Er setzt einen Prozess in Gang, von dem er weder Subjekt noch Produkt sein will. Man muss freilich sein Grinsen anschauen, um der Versuchung zu widerstehen, diesen Akt als „naiv“ anzusehen. Hick hat ein Zeichen gesetzt, dann ist er ausgetreten. Daß es ausgerechnet Polizisten sind, die dieses Zeichen bewachen und forttragen müssen, hat einerseits mit dem Leben in der AchternbuschWelt zu tun, an dessen Anfang (in BIERKAMPF) ja die Geschichte von einer Null stand, die unbedingt etwas sein wollte: ein Polizist, andererseits mit der Uniformierung des Menschen (welch menschenfreundliche Pointe, daß in NEUE FREIHEIT die Polizeiuniformen so schlecht passen!), schließlich mit dem Wesen der Autorität in der Gesellschaft, dem Staat im Menschen und dem Menschen im Staat. Für Hick also sind die Polizisten keine Feinde, so wie sie für den anarchistischen Kasperle Feinde sein müssen. Er hat sie vielmehr als vergrübelte, unglückliche Kleinbürger durchschaut, die sich beinahe mit jedem Wort, das sie herauslassen, vor allem selbst verletzen. Nur sich selbst verstehen sie noch weniger als die Welt, in der sie für die Ordnung zuständig sind.
Hick dagegen ist aus dem endlosen Kreisen ausgetreten. Die soziale Verelendung hat er als richtiges Leben im falschen akzeptiert, ein Diogenes hinterm Rathaus, dessen Kunst das Verstummen ist. Während in seinen früheren Filmen oft der zentrale Achternbusch-Charakter direkt ins wirkliche Leben und seinen Mitmenschen an die Gurgel sprang, als Polizist, Gespenst oder Künstler, ist er hier einer, der sich zurückzieht, aber nicht in einer Geste der Verweigerung, sondern in einer der Teilhabe. Deswegen ist es wahrscheinlich auch Hick zu verdanken, dass Kohl schließlich tatsächlich verschwunden ist, was Bürgermeister Ude (respektive seinen Doppelgänger) zu einer ergreifenden Ansprache vom Rathaus inspiriert. Auf die Frage, wer uns von Kohl befreit, gibt Achternbusch eine ziemlich klare Antwort: die Kunst. Aber wenn am Ende Rolf Boysen und Thomas Holtzmann in den schlechtest sitzenden Polizeiuniformen, das Hick-Transparent im Garderobenständer, nicht recht wissen, ob sie Wein oder Weißbier trinken sollen und ob es überhaupt noch etwas zu sagen gibt, dann ist freilich auch dies klar: Nutzen tut auch dies Wunder des Verschwindens nichts.
Kohls Verschwinden ist zwar eine Enttäuschung, aber das Problem sitzt tiefer. Es steckt im Verhalten jener Achternbuschschen Ur-Horde, die sich nicht selbst genug sein konnte. Vielleicht ist der Mensch ja wirklich als Kunstwerk auf die Welt gekommen, das sich selbst nicht verstand. Lange üben die Menschen, sich zu schlagen, und dabei nicht den falschen zu treffen. Sie müssen fallen, weil sie nicht stehen können, ohne etwas zu tun. Die Kunst wird die Menschen begleiten, und nie eine Chance haben.
Auf den ersten Blick ist NEUE FREIHEIT einer der sanftmütigsten Filme von Herbert Achternbusch. Er ist erleuchtet von einer großen inneren Ruhe. Man kann ihn ohne weiteres als Glücksdroge benutzen. Aber er ist auf der anderen Seite mitnichten versöhnt. Die Rebellion der Kunst geht weiter, auch wenn der Künstler sich zurückzieht, auch wenn es den Anschein hat, als würde es Hick/Achternbusch kaum noch Anstrengung kosten, die falsche Ordnung der Welt zu stören.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film
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