»Mullholland Drive« ist wahrscheinlich ein Film, der nicht nur die Lynch-Fans in Verzückung setzen wird, sondern auch bei Lynch-Skeptikern ankommt. Er zeigt die Lynch-Methode der nicht-linearen Erzählweise und der Traumdramaturgie, seine grotesken Nebenfiguren und seine selbstreferentiellen Bildwelten in bemerkenswerter Durchsichtigkeit. Aber anders als in »Lost Highway« wird die Methode nicht für sich vorgeführt. Wir sehen im Lynch-Kosmos der dubiosen Gestalten und Alpträume zwei Frauen zu, von denen man jederzeit glaubt, es könne sich um echte Menschen handeln beziehungsweise um Vorstellungen echter Menschen, und wir sehen in eine Welt, die Lynch vermutlich noch besser kennt als die trügerischen Picket-Fence-Idyllen von Middle America: die Welt der Filmemacher von Kalifornien. Genauer hat der Regisseur nie gezeigt, dass seine Alpträume nicht bloß einem besonderen Kopf entspringen, sondern auch einer Maschine, die Bilder und Träume produziert. In »Mulholland Drive« wendet sich die Lynch-Methode der Bewegung inside a dream also diesmal auf sich selber an. Hier geht’s nicht um Bilder von etwas Verrücktem, hier geht es um das Verrückte im Machen von Bildern. Das ist eine so sexuelle wie politische Angelegenheit.
Dabei hat dieses neue Meisterstück eine eher problematische Produktionsgeschichte. Ursprünglich nämlich war der Film, genauer gesagt: die erste Hälfte von ihm, als Pilotfilm für eine Fernsehserie gedacht, die aber dann den Auftraggebern doch zu düster und irrational erschien. Deshalb drehte der Regisseur einen anderen Schluss. Vielleicht auch so etwas wie ein Negativ des ersten Teils. Und in dieser vertrackt offenen und geschlossenen Form kommt der Film nun ins Kino. Und dem kann man sich einerseits ganz einfach überlassen, ohne Erwartung vorher und ohne Nachdenken hinterher. Die Verrücktheiten des Films sind mit einer ungeheuer reifen Kompositionsgabe verarbeitet. Wenn man »Mullholland Drive« als einen Film ohne Inhalt ansieht, ist er einfach schön. Punkt. Naja, vielleicht doch eher Semikolon. Denn natürlich hat der Film einen Inhalt.
Einen? Eine schwarze Limousine über den Hügeln der Lichternetze von Los Angeles; eine Frau wird chauffiert. Unerwartet hält das Auto, der Fahrer schickt sich an, die Frau zu erschießen, aber dann kommt es zu einem fatalen Unfall. Die Frau wird verletzt und irrt ohne Gedächtnis umher, bis sie in einem Haus Zuflucht findet. In diesem Haus, es gehört ihrer Tante, ist gerade die junge hoffnungsfrohe Schauspielerin Betty eingezogen. Die beiden Frauen freunden sich an, und gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach ihrer verlorenen Identität. Das ist ein klassisches Paar, die optimistische blonde Betty und die dunkle Frau, die sich Rita nennt, weil sie ein Plakat von »Gilda« mit Rita Hayworth gesehen hat – und natürlich dreht sich hier alles erst einmal um film noir und Pop-Mythen, um good girls à la Doris Day und femmes fatales.
Unterdessen hat ein junger Regisseur Ärger mit den Produzenten, die ihm eine bestimmte Schauspielerin, nämlich Betty, oktroyieren wollen und dabei vor Gewalt nicht zurückschrecken. Weit reicht die Intrige in die Abgründe der Filmfabrik, und da sind sie wieder, die Lynch-Figuren, ein »Cowboy«, ein kleiner Mann in einem abgeschlossenen Raum (wir kennen ihn als den rückwärts sprechenden Zwerg in »Twin Peaks«), bizarre Schläger, Killer, Männer mit Macht und Geld, dunkle Mafiosi.
Die beiden Frauen erleben Ups und Downs; sie finden die Leiche einer Frau, sie schlafen miteinander. Rita entdeckt schließlich das blaue Kästchen und den Schlüssel dazu, dem ihre Suche galt; und mit einem Schlag ist alles anders, die Geschichte erzählt sich rückwärts: Betty ist die Verliererin in der Liebe und im Kampf um die Rollen, sie lebt in einer heruntergekommenen Wohnung, sie sehnt sich nach der untreuen Geliebten Camilla; die Szene in der Limousine wiederholt sich, mit Betty im Fonds, doch nein, sie wird nicht mit einer Pistole bedroht, es passiert etwas noch Schlimmeres: Sie wird zu einem Fest von Camilla geführt, bei dem sie ihre Hochzeit mit dem Regisseur verkündet. Die pure Demütigung. Aber ist sie nicht auch ein Gespenst, die Tote, die die beiden im ersten Teil gefunden haben?
Wie in »Lost Highway« geht es auch um die Macht der alten Männer über die jungen Frauen, die Korruption, die Verschwörung, die Rollen, die man spielt und die sich vom Subjekt entfernen. Dazu gibt es ein schönes Spiel-im-Spiel: Betty probt mit Rita eine Rolle für das Vorsprechen, irgendeinen Soap-Opera-Unfug über eine Frau, die zwischen ihrem Liebhaber und ihrem Vater steht, (also im Lynch-Kosmos vielleicht doch nicht nur Unfug), und während sie es mit Rita heftig und melodramatisch eingeübt hat, spielt sie es mit ihrem Partner, einem etwas schmierigen Has-Been, wie wir sie in Fernsehserien häufig sehen, leise und gefährlich. Konträrer kann man denselben Text nicht visualisieren, und das ist eines der Konstruktionsprinzipien des Films.
Es ist Lynchs erster Film über das Filmemachen, und es ist, vielleicht, Lynchs erster Film über die Liebe zweier erwachsener Menschen. Es gibt deswegen auch in diesem Film den meisten Sex seit »Blue Velvet«, was nicht ohne Bedeutung ist – ein Schlüssel zwischen den beiden möglichen Geschichten, denn im Sex übernimmt Rita die Rolle der Verführerin, der Schauspielerin auch, und dadurch verwandeln sich die beiden in ihr wahres oder anders falsches Wesen. Und aus Rita wird Camilla.
Aus Liebe wird ein Alptraum, das ist schon beinahe wieder normal. Was in der Geschichte Traum und was Wirklichkeit ist, ist eigentlich gleichgültig. Denn oft genug braucht man ja auch Alpträume für die Liebe. Aber das Eine ist eben nie die einzige Erklärung und die einzige Folge eines Anderen. Es ist immer auch Teil eines Geflechts, das sich nie aus der Summe seiner Teile erklären lässt. David Lynchs Filme sind deswegen so verrückt, weil sie unter anderem auch wissenschaftliche Experimente sind. Nicht mit Menschen, wie es die Psychologen mit der Kamera tun, sondern durch sie.
Die Möglichkeiten, die die Fernsehserie geboten hätte, liegen auf der Hand, die vielen Nebenfiguren, die jetzt nur als seltsame Rätsel durch den Film irren, könnten ihre eigenen Geschichten oder die Parodien auf Geschichten erhalten, die gleich am Anfang zitierte Ästhetik des Fernsehfilms aus den fünfziger Jahren, das Spiel der TV-Geschwindigkeit mit den kürzer aneinandergeschnittenen Szenen usw. Aber in der Fassung, die nun im Kino läuft, erscheint das alles als Stilelement, als wäre es die Grenze, die man überschreiten muß; es scheint Lynch dazu zu zwingen, zugleich radikaler und klarer zu werden.
»Mulholland Drive« ist ein Film, den man immer wieder wird sehen können, und jedesmal wird man ihn anders sehen. Mal mit, mal ohne Nachdenken.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht Konkret 01/2002
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