Als die Bilder lügen lernten
Das Wasser wie Blei, die Luft wie unheilschwanger. Und die Insel vor dem Bug wie eine Drohung. „Du bist mein neuer Partner?“ fragt Marshal Teddy Daniels seinen Kollegen Chuck Aule. Dieses erste Bild ist eine Lüge. Aber selten wurde im Kino mit so viel Kraft gelogen wie hier von Martin Scorsese.
Wer einen Martin Scorsese erwartet, wie er ihn erinnert durch den großartigen „Taxi Driver“, der wird im falschen Film sein. Die Stringenz der Ästhetik, die Rationalität der Handlungsführung, das findet nicht statt. „Shutter Island“ ist ein beinahe barock zu nennender Film, in seiner visuellen Anmutung, in seiner Geschichte.
Ein Film auch, den man Eklektizismus vorwerfen könnte, denn ein wenig wirkt er, doch das ist gewollt, wie die Summe aller düsteren Schauder- und Detektivfilme der 40er und 50er Jahre. Scorsese zeigt und nutzt lustvoll all die Traditionsorte des Schauderns: Die Gruft, die Kapelle, den Leuchtturm, die Klippen. Und, natürlich, er lässt den Sturm wüten und den Regen peitschen. Er treibt das Licht aus dem Film, er zelebriert die Feier der Dunkelheit. Diese Düsternis ist nicht einfach Dunkelheit, sie ist das wahrnehmbare Fehlen von Licht, so wie Stille das wahrgenommene Fehlen von Lauten sein kann. Und
Martin Scorsese lügt gleichsam, weil das Buch von David Lehan die Geschichte einer Lüge erzählt. Dieser hochklassige Regisseur lügt mit so viel Kraft, und Lust, dass bald ahnbar wird, dass wir hier eine Lüge sehen, eine Inszenierung, eine Übertreibung.
Aber wer lügt und warum? „Das ist ein Starkstromzaun“, sagt Teddy Daniels, als sie die Insel betreten, auf der kriminelle Geisteskranke eingesperrt und behandelt werden. „Woher weißt du das?“ entgegnet sein Partner.
Der US-Marshal weiß das, es ist das Jahr 1954, weil er bei der US-Army war, als sie Dachau befreiten und die SS-Wachen erschossen, übrigens ein historischer Vorgang. Die Bilder des Konzentrationslagers verfolgen ihn in seinen Alpträumen.
Und seine Frau, die bei der Berührung wie Asche zerfließt, denn sie wurde Opfer eines Brandanschlages. Ein Mann namens Andrew Laeddis hat das verschuldet, er soll auch in dieser Anstalt sein und Teddy Daniels will ihn finden. Er ist tatsächlich hier, doch Andrew Laeddis hat ein Versteck wie es nicht besser sein kann, wenn man von Teddy Daniels gesucht wird. Offiziell aber ist der Marshal hier, weil eine vierfache Mörderin ihrer Kinder spurlos verschwand. Einfach so. „Ich will einfach nur wissen, was zum Teufel hier läuft.“ sagt einer der Beamten, und genau das ist die Situation des Zuschauers.
Martin Scorseses Regie tänzelt zwischen Traum und Wirklichkeit, genau das ist sein Thema. Und er bedient es so, dass die Inszenierung jederzeit spürbar ist, über allem liegt ein Hauch von Unwirklichkeit, von Übertriebenheit – nur, dass wir eben nicht wissen, was hier Wirklichkeit ist und was Imagination.
Mag sein, dass Scorsese in seiner Lust am filmischen Barock, an seiner Reverenz an den frühen Film im mittleren Teil ein wenig die Kontrolle verliert, das Maß, aber dennoch ist das ein meisterhafter Film, den schätzen kann, wer das Kino liebt und seine Mythen. „Du bist eine Scheißratte in einem Labyrinth“, sagt einer der Insassen zu Teddy Daniels – und genau so sieht dieser Film aus.
Vor allem aber sieht Leonardo DiCaprio so aus, der sich nicht nur zunehmend von den opulent inszenierten Bildern emanzipiert, vielmehr eine Art von eigener Gegenwelt bildet, in der nur er noch vorkommt, eine Welt, durch die er panisch getrieben wird. Scorsese verschafft auch seinen anderen Stars, Max von Sydow und, vor allem, Ben Kingsley als dunkler Psychiater, dessen wahre Absichten lange verborgen bleiben, gute Auftritte. Ein Film, bei dem selbst noch die barockesten Bilder eine Intensität, eine Konzentration ausstrahlen, die Martin Scorsese als einen großen Regisseur erweisen.
Als Alfred Hitchcock „Die rote Lola“ drehte, gab es damals Debatten über die Frage, ob es gegen die Konventionen des Kinos verstoße, wenn reale Bilder sich später als Lüge erweisen. Diese Diskussion gibt es heute, im Zeitalter der digitalen Manipulierbarkeit des Bildes, schon lange nicht mehr. Die Menschen wissen, dass die Bilder lügen können, sie haben es gelernt in den letzten Jahren. So ist die ausbleibende filmästhetische Debatte, die vor einem reichlichen halben Jahrhundert (1950) die Gemüter erhitzte, auch ein Zeichen der Zeit.
Text: Henryk Goldberg
Bild: Concorde Film
Regie: Martin Scorsese
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