Das Verschwinden in der Zeit
Der Anfang könnte eine Traumszene sein: Ein Mann steigt von einem Baum herab und flieht ohne Schuhe durch einen nächtlichen Wald. Es ist Krieg, Schüsse ertönen. Er klopft ans beleuchtete Fenster eines Hauses, hinter dem eine schöne Frau sitzt, die ihn an seine Lehrerin erinnert. Sie öffnet die Tür, lässt ihn ein, gibt ihm zu essen. Doch bald kehrt ihr Geliebter zurück, Adjutant einer Armee, und nimmt – nach einer aufgeregten Nacht mit Schüssen in die Zimmerdecke – den Mann ohne Schuhe mit, sodass der sich bald mitten im Kampfgeschehen wiederfindet. Drago Jančar, der wohl bedeutendste slowenische Autor der Gegenwart, lässt es zunächst geschickt im Ungewissen, um welchen Krieg es sich handelt, bis dann nach und nach deutlich wird, dass wir uns im Jahr 1943 befinden, wo kommunistische Partisanen mit versprengten Italienern gegen die Kroatische Armee kämpfen.
Doch kaum ist man drin in der Geschichte, bricht sie auch schon ab, und der eigentliche Roman beginnt. Da sitzt Janez Lipnik, der im Traum vom Krieg der Mann ohne Schuhe war, in einem Einkaufszentrum in Ljubljana und wartet auf seine Frau, die er beim Friseur vermutet. Alles, was sich nun ereignet, geschieht in seiner Erinnerung. Da überlagern sich die Zeiten und umhüllen sich wie die Schichten einer Zwiebel. Lipnik ist Archivar und eigentlich mit Entschädigungsansprüchen für Enteignungen aus der kommunistischen Zeit befasst. Doch diese Arbeit blieb liegen, seit er im Archiv auf die Akte eines „Erotomanen“ stieß – „Akte“ also durchaus im Doppelsinn.
Diese Blätter geben in archivarischer Exaktheit und pornografischer Detailversessenheit Auskunft über sämtliche erotische Begegnungen und Liebschaften seines Lebens. Dieser Don Juan und Abenteurer ist das exakte Gegenteil des biederen Archivars, und vielleicht lässt ihn dessen Lebensgeschichte deshalb nicht mehr los.
Je mehr der Archivar in die fremde Geschichte eintaucht, die in den Wirren des Zweiten Weltkrieges beginnt, umso mehr verliert er die Kontrolle über sein eigenes Leben. Er leidet an einem „Gefühl des Verschwindens in der Zeit“, einem historischen Schwindel, der ihn seiner eigenen Welt entfremdet. In seiner Besessenheit fühlt er sich von seiner Frau betrogen und vernachlässigt seine Arbeit, bis er alles verliert.
Seine Frau verlässt ihn, weil er ihr Angst macht. Sein Büro wird leergeräumt, weil er dort wochenlang nicht mehr erscheint. Der Mann, der da im Einkaufszentrum sitzt und grübelt, ist also einer, der in den Tiefenschichten der Zeit verloren gegangen ist. Seine Fantasien haben sich als mächtiger erwiesen als die umgebende Gegenwart. „Es geschieht nichts. Alles ist schon längst geschehen“, denkt er und zeigt auf seinen Kopf: „Und alles ist hier drinnen.“
Drago Jančars „Der Baum ohne Namen“ lässt sich als Geschichte eines Wahns lesen, die aus der Perspektive des Verwirrten erzählt wird. Wirklichkeit und Traum, Geschichte und Gegenwart überlagern sich, bis man schließlich auch als Leser die Orientierung zu verlieren droht. Je tiefer er in die Geschichte vordringt, umso verfehlter, verworrener ist sein Bezug zur Gegenwartswirklichkeit.
Zugleich führt Jančar vor, wie die verschiedenen Ebenen der Zeit miteinander verflochten sind. Zeit verläuft in diesem Buch nicht linear, sondern kreisförmig, oder eher wie ein Trichter, in dessen Tiefen der arme Archivar verschwindet. Was von außen betrachtet als zunehmende Orientierungslosigkeit erscheinen mag, ist für ihn selbst das Vordringen in die Tiefendimensionen der Wahrheit, die sicher nicht auf der flachen Oberfläche der Zeit im Einkaufszentrum zu finden ist.
Das Ende der Geschichte steht deshalb am Anfang. Nun ist der Archivar der Mann ohne Schuhe, in einem Krieg, den er doch eigentlich allenfalls als Kind erleben konnte und den er deshalb herbeiträumt. „Der Baum ohne Namen“ ist eine raffiniertes, dramatisches Erzählgeflecht. Jančar demonstriert damit, wie untrennbar jeder Augenblick mit der Geschichte verbunden ist. „Historische Aufarbeitung“ ist damit kein bloßer Gedenk-Imperativ für die politische Moral, sondern eine Grundlage der Existenz. Wer sich aber wirklich darauf – und auf dieses Buch – einlässt, der muss damit rechnen, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Text: Jörg Magenau
aus: Radiofeuilleton, Kritik, © 2010 Deutschlandradio
Drago Jančar: „Der Baum ohne Namen“
Roman. Aus dem Slowenischen von Daniele Kocmut
Folie Verlag, Wien, Bozen 2010
330 Seiten, 22,90 Euro
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