Die Gelassenheit von Sand
Über Spuren, Literatur und einen Film
Ein Pinsel zeichnet merkwürdige, fließende Figuren auf grobem Grund. Reptilien, Menschen, sich öffnende Glieder? Es sind Schwimmer, eine Höhlenzeichnung in der Wüste, eine Hoffnung, eine Spur in alte Sehnsucht und in künftige auch. Denn später werden wir sehen, wie eine Frau diese Spuren kopiert und noch später, wie sie stirbt in einer Höhle und ein letztes Mal in dieses Buch schreibt, in das die Zeichnungen geheftet sind. Und ganz am Ende werden wir erleben, wie diese letzte Spur vor dem Verwehen einem Mann ohne Gesicht vorgelesen wird, ehe er stirbt in Frieden am Morphium, das ihm eine andere Frau gibt, die dieses Buch der Spuren mit sich nehmen wird. So fließt eines in das andere, so hat alles seine Spur in der Zeit. Kunst ist, diese Spuren sichtbar zu machen.
Anthony Minghella hat mit Michael Ondaatjes Roman „Der englische Patient“ getan, was alle tun, er hat die Literatur geplündert. Aber er hat es anders getan als Bille August mit Peter Høegs Fräulein Smilla: Er hat ein Gespür für sein Sujet, für die Spuren auch, die Literatur hinterlässt. Die Männer in diesem Film, Wüstenforscher, gründen einen „International Club of Sand“. Das ist für Minghella, anders als es der Schnee für August war, mehr als ein Wort. Es ist ein Gefühl für Geschichten, die fließen mit der unaufhaltsamen Gelassenheit von Sand. Und mit dieser Gelassenheit erzählt er.
Wir sehen, von hoch oben, merkwürdige Gebilde, konturierte Frauenkörper, weibliche Torsi – dann weitet sich der Blick, und wir erkennen die Wüste in ihrer absichtslosen Zeichnung, ihrer zufälligen, sich stetig wandelnden Gestalt. Formen lösen sich verfließend auf, um sich neu zu bilden, das Einzelne verbindet sich zu einem neuen Ganzen. Und so wie die Wüste die Summe ihrer Sandkörner ist und das Meer die seiner Tropfen, und so wie das Sandkorn die Wüste enthält, auch wenn es keine Spur hat in ihr, so enthält das Schicksal des Menschen, auch, wenn es spurlos bleibt, den Schmerz und das Sehnen der anderen. Das macht große Geschichten, und so erzählt uns Anthony Minghella vom Korn in der Wüste. So findet er die verwehten Spuren im Sand.
Vier Menschen, in einem Refugium, Italien kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges. Hana (Juliette Binoche), die Krankenschwester, die Frau, die ihre Männer an den Krieg verliert, pflegt den englischen Patienten (Ralph Fiennes), den Mann ohne Gesicht, dessen Haut, nachdem sein Flugzeug abgeschossen wurde, ist wie Pergament, in das Fingernägel weiße Spuren gruben. Kip (Naveen Andrews), der indische Offizier, der Mann, der die Minen sucht, und Caravaggio (Willem Dafoe), der englische Agent, der Mann ohne Daumen.
Caravaggio hält den englischen Patienten, der sein Gedächtnis verlor, seine Spur zu sich, für den Mann, der Schuld trägt, dass die Deutschen ihm die Daumen von den Händen folterten. Und langsam, wie der Wind über den Sand geht, erinnert sich der Mann ohne Gesicht an seine Spuren.
Und das ist die eine, die tragende, die eigentliche Geschichte von dem ungarischen Grafen und Wüstenforscher, der die Frau (Kristin Scott Thomas) seines englischen Kollegen liebt. Es ist jene Frau, die die Zeichnungen in der Höhle kopierte. Jene, die einst am Feuer die Geschichte von Gyges erzählte, der die Frau seines Königs nackt sah, und von dieser vor die Wahl gestellt wird, zu sterben oder den König zu töten und seine Stelle einzunehmen, denn für niemanden als den Mann und König ist die Nacktheit der Königin bestimmt. Doch der Mann der blonden Frau applaudiert und singt ein lustiges Lied und hält das für eine lustige Geschichte, so hat er sie nicht verstanden. Und wir erinnern uns, dass auch die Königin zum Tode bestimmt war.
Anthony Minghella erzählt eine altmodische Geschichte, und er erzählt sie auf eine altmodische, gediegene Weise: Die Bilder, die er erfindet, sind für die Geschichte da, nicht umgekehrt. Das ist ungewohnt in einer Zeit, wo sonst die Geschichten ausgeweidet zu werden pflegen, für die Effekte, die sie ermöglichen, für die Geräusche, die sie hervorbringen.
Dieser Film verwurstet nicht Literatur, er reduziert nicht einen geistigen Entwurf auf einen frechen Plot, der den Unterschied von Literatur und Trivialität zum Verschwinden bringt: Er macht eine ehrwürdige Verbeugung vor seinem Sujet und erwirbt so selbst Ehr-Würdigkeit.
Die Darsteller sind sehr gut, doch nicht überragend – überragend ist der Film, dessen Bilder nur ein-, zweimal in den Kitsch entgleiten, als Gesamtentwurf, als ein Verhältnis von Kino und Literatur.
Einmal, als der Mann ohne Gesicht noch ein Gesicht hat und Geschichten, da erzählt er von einem arabischen Volk, das sich waffnet, um in den Krieg zu ziehen gegen den Sandsturm. So ist es mit den Menschen, denen die Gelassenheit des Sandes fehlt.
Autor: Henryk Goldberg
Text: geschrieben
Text: veröffentlicht in filmspiegel
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