Zeit-Raum des Abschieds
Angela Schanelecs großer Film „Orly“
Ein Flughafen ist ein sonderbarer Ort. Mag auch alles vorher und nachher dramatisch, tragisch oder komisch sein, hier kommt es für eine erzwungenermaßen gar nicht einmal so kurze Zeit zur Ruhe. Bemerkenswerterweise ist diese Ruhe vor allem durch ihr Gegenteil, die allfällige Drohung von Terror und Störung, erzwungen, und die Ruhe gibt das auch wieder: der privat so überfüllte Zeitraum ist gleichsam historisch entleert. Tatsächlich ist der Mensch sich hier überlassen, was zugleich schön und furchtbar ist. Eine aufgeladene Passivität, die nichts mit dem heftigen Ankommen/Weggehen auf einem Bahnhof zu tun hat. Schon immer hat das Kino hier große Momente gehabt. Dies ist einer davon.
Gott, möglicherweise, sitzt in einem Flughafen-Wartesaal und beobachtet melancholisch die Menschen, die hier eine sehr merkwürdige Zwischenzeit in ihrem Leben verbringen. Eingreifen kann er nicht in das Leben seiner Geschöpfe. Oder er will es nicht, was bei einem Gott wahrscheinlich das gleiche ist. Jedenfalls kommt ein solcher Gott des Herumsitzens und Zusehens in dem Brief vor, der am Ende von Angela Schanelecs Film „Orly“ aus dem Off gelesen wird, während der Flughafen des Titels wegen einer im Abfalleimer gelandeten Handtasche geräumt wird. Und vielleicht kann man für „Gott“ auch „die Kunst“ sagen.
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Georg Seeßlen: Filmkritiken 2010 – 2013
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Mit Leidenschaft für den Film und mit Liebe zum Kino
52 Filmkritiken, geschrieben und veröffentlicht in den Jahren 2010 bis 2013, bieten Einblicke und Ansichten, vermitteln Zusammenhänge und Perspektiven.
Das Thema der Filmkritik ist das Filmesehen. Und Filmesehen ist eine Kunst. Und Georg Seeßlen versteht davon eine ganze Menge. Seine kompetente Übersetzung des audiovisuellen Mediums Film in Sprache ist tiefgründig, vielschichtig und bezieht aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen mit ein.
Gehen Sie mit Georg Seeßlen auf eine Reise in die Filmgeschichte. Eine Reise in Zeit und Raum.
Bilder: © 2010 Pfiffl
Orly (D, F 2010)
Regie: Angela Schanelec
Darsteller: Natacha Régnier, Bruno Todeschini, Maren Eggert
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