„Lehre dein Kind auch das Bild, nicht nur die Formel“. So geht der erste Satz, und das mit Bedacht: Es ist der Vor-Satz dieses Schreibens. Und er bittet, die Farbe, den Geschmack, den Geruch, das Gefühl nicht geringer zu achten als die Benutzbarkeit, die Brauchbarkeit der uns umgebenden Welt. Schriftsteller sind mehrheitlich Menschen, mit denen wir Titel, Figuren oder Geschichten ihrer Bücher verbinden. Mit Hanns Cibulka verbinden wir: ein Gefühl. Vielleicht, dass er deshalb ein wohl unterschätzter Autor ist, denn sein Amt war leise und sein Grübeln still.

Hans-Dieter Schütt hat dieses Brevier herausgegeben und „Labyrinth des Lebens“ genannt. In diesem Labyrinth, darin die Menschen mit zunehmender Aufgeregtheit die Ausgänge, die Auswege suchen, bewegt sich Cibulka gleichsam mit lächelnder Bitterkeit, mit konzentrierter Gelassenheit. Einen „Dichter des Mählichen“ nennt Schütt in seinem glänzenden Nachwort den Tagebuchdenker, und sein Schreiben ein „spirituelles Überwinden von etwas, das man vielleicht die wahre Modernität“ nennen kann. Indem, schreibt Schütt, sich Cibulka seiner Trauer über die Vereinnahmung durch die Zeit vertrauensvoll hingibt, antworte diese Trauer mit „einem Echo ganz aus Frieden“. Genau das ist die merkwürdige Wirkung dieser Tagebuchprosa: Eine Bitterkeit, eine Melancholie, die doch von einer großen und tiefen Ruhe, einer Stille aus Harmonie beseelt sind.

Die Kraft dieser Melancholie wächst auch aus dem Bekenntnis zu sich selbst. Ein Mensch, der weiß, dass er sein Leben verfehlt, wenn er Erfolg an Opulenz knüpft – so sucht er seinen Weg in der Reduktion des Tagebuchs. Und geht diesen Weg mit der Gelassenheit dessen, dem es nicht hechelnd zu einem nächsten Ziel treibt, der sich vielmehr treiben lässt auf diesem Weg, der sich, gleich Helenas Türmer, „umherzuschauen bestellt“ weiß.

Man wird diese Prosa hastig überfliegen – oder man wird innehalten, durch einen sanften poetischen Sog festgehalten, hingezwungen auf das sonst Übersehene. Es ist, als stemme sich Cibulka schreibend gegen „die Diktatur der Uhr“ und lade uns ein, dergleichen zu tun. Wenn einer diese Einladung ausschlägt, weil er nicht innehalten mag oder kann, dann haben sich er und dieses Buch verfehlt, dann gehen sie einander nichts an. Wer sich aber einlässt auf diesen Ton, auf diese Gelassenheit, wer beide annehmen kann als einen Wert in sich, dem verstetigen sie gleichsam die Zeit. Dem schenkt der skeptische, melancholische Ton, und das ist merkwürdig genug, einen Hauch Gelassenheit.

Diese Prosa ist so etwas wie eine Schönheit auf den zweiten Blick. Wer sich und diesen Texten die Zeit gönnt, die beide verdienen, dem offenbart sich die Fülle des Wohllauts und des Wohlgefühls. Man kann diese Texte auch allein laut lesen, sie haben Klang und Volumen.

Hans-Dieter Schütt hat seinen Cibulka nicht chronologisch geordnet, er verzeichnet nicht Zeit noch Ort: Das erscheint wie eine Reverenz an den stillen Dichter aus Gotha, der ja eben dieser Zeit, bis sie ihn 2004 doch überwand, trotzte mit melancholischem Gleichmut.

Wer sich diesem Buch hingibt, wird kaum rationale Erkenntnis gewinnen. Wohl aber ein anderes Zeitgefühl, eine innere Gelassenheit. Und ein Empfinden für die Kraft des Mählichen.

Text: Henryk Goldberg

erschienen in Thüringer Allgemeine, 19.10.2010



Labyrinth des Lebens

2010, 128 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen,
Herausgegeben von Hans-Dieter Schütt
Eulenspiegel Verlag



bei amazon kaufen