Der Zug des Fortschritts
In Stuttgart wird um das Konzept des Fortschritts gerungen. Doch sind zehn Milliarden für dreißig Minuten Zeitgewinn gut ausgegebenes Geld? Eine entschleunigte Betrachtung.
Über Stuttgart und seinen neuen Bahnhof ist schon sehr viel, eigentlich alles, und zwar mehrfach, geschrieben worden – einschließlich der Tatsache, dass die Widerstandsparole „Oben bleiben!“ inzwischen auch auf den örtlichen Fußballverein ausgeweitet werden muss, der in der Bundesligatabelle ganz unten steht. Historisch gesehen ist die Geschichte von Protesten und Aufständen nichts als eine lange, elende Kette von Niederlagen. So hat es Peter Weiss in seiner „Ästhetik des Widerstands“ herausgearbeitet, dabei aber empfohlen, den Kopf trotzdem oben zu behalten. Der VfB scheint das mit den Niederlagen nun allerdings allzu wörtlich zu nehmen.
Tatsächlich ist „oben bleiben“ als Fußballmaxime geeigneter denn als Motto des Widerstands. Denn diejenigen, die gegen die Tieferlegung des Bahnhofs rebellieren, treten ja zugleich gegen „die da oben“ an, die nach der nächsten Wahl eben nicht „oben bleiben“ sollen. Schon Bert Brecht dichtete, „dass was oben ist, nicht oben bleibt“. Er meinte das ausschließlich klassenspezifisch und machttheoretisch. Der neue Bahnhof liegt demnach nicht nur quer zum alten Gleisbett, sondern auch quer zur Klassenfrage. So viel steht fest, wenn die Losung „Oben bleiben!“ bleiben soll. Vertreter der Unterschicht würden dieser Parole wohl kaum zuneigen; nur eine bürgerliche, bewahrende, konservative Protestbewegung hat damit keine Probleme.
Brechts Sinnbild für den ewigen Umwälzungsprozess war das Mühlrad, also ein zu seiner Zeit eher romantisches, rückwärtsgewandtes Bild, das mittlerweile aber in Gestalt der Wasserkraft durchaus für Fortschritt und Zukunft steht. Es ist eben auch technologisch nie ein für allemal ausgemacht, wo oben und unten, vorwärts und rückwärts anzusiedeln sind.
__________________________________________________________________
Die Fortschrittskonservativen setzen nicht nur die Natur aufs Spiel,
sondern darüber hinaus auch ihre Macht.
__________________________________________________________________
Dass sich der Widerstand gegen „die da oben“ ausgerechnet an einem Bahnhofsbau entzündet, ist erstaunlich, haben Proteste hierzulande sich bisher nur an größeren Gefahren wie Atomenergie oder Mittelstreckenraketen entzündet und daraus die nötige Energie gewonnen. Und doch ist es konsequent, ist doch der Bahnhof das natürliche Symbol für Mobilität, Geschwindigkeit, Pünktlichkeit, Zeitgewinn, also all das, was „Fortschritt“ definiert.
Fortschritt ist ja nichts anderes als das Einsparen von Zeit auf technologischer Basis. Alle Rationalisierung der Produktion läuft darauf hinaus; Wohlstand ist ein Gewinn an freier Zeit. Als Ende des 19. Jahrhunderts die großen Bahnhofsbauten in Deutschland entstanden, galten sie völlig zu recht als Kathedralen des Fortschritts und wurden entsprechend mit sakralen Rosettenfenstern, Säulenhallen und gotischen Giebeln bestückt. Bahnhöfe waren nicht nur funktionale Architektur, sondern Glaubensstätten. Egal, in welche Richtung der Zug auch fuhr, er fuhr ganz gewiss in die Zukunft. An diese Epoche knüpft Stuttgart 21 an, indem es ein neues Symbol technologischer Zukunftshaftigkeit schafft. Die Frage ist allerdings, ob dieses Symbol noch zeitgemäß ist.
Beschleunigung war seit Erfindung der Eisenbahn das zentrale Credo der Gesellschaft, der kapitalistischen ebenso wie der sozialistischen, der Erich Honecker von seinem Tribünenplatz aus das durchaus CDU-wirtschaftsflügeltaugliche „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ zurief. Solange Wirtschaftswachstum als Bedingung des wachsenden Wohlstands anerkannt war, musste eben alles immer schneller gehen, auch das Reisen, das in der Folge zur bloßen Fortbewegung von einem Ort zum anderen degenerierte. Nicht mehr das Unterwegssein war das Ziel, sondern die möglichst rasche und reibungslose Ankunft.
__________________________________________________________________
Der unterirdische Transport in Tunnelröhren, wie er nun auf weiten Strecken
zwischen Stuttgart und Ulm geplant ist, radikalisiert
die Verunwirklichung des Reisens als eines Raum- oder Welterlebnisses.
__________________________________________________________________
Mit Reisen als Bildung in einem goetheschen, emphatischen Sinn hat das nichts mehr zu tun. Im ICE durchquert man Landschaft und Städte im rasenden Tiefflug und hat keine Chance mehr, die Einzelheiten vor dem Fenster wahrzunehmen. Man beschäftigt sich folglich nicht mehr mit dem Draußen, sondern mit sich selbst und seinem technischen Equipment, mit dem man sich die Zeit vertreibt. Der Preis des Erfahrungsverlustes wird entrichtet, um dafür mit einem Zeitgewinn am Zielort belohnt zu werden. Die Bahn bezahlt diese Ideologie damit, dass ihr nun jede kleine Verspätung wie ein Betrug vorgehalten wird. Wenn die rasche Ankunft alles ist, ist Unpünktlichkeit ein Verbrechen.
Der unterirdische Transport in Tunnelröhren, wie er nun auf weiten Strecken zwischen Stuttgart und Ulm geplant ist, radikalisiert diese Verunwirklichung des Reisens als eines Raum- oder Welterlebnisses. Im Zugfenster wird dann nichts mehr zu sehen sein als das eigene Spiegelbild. In letzter, utopischer Konsequenz müsste diese Fortbewegungsweise im „Beamen“ ihre Erfüllung und Überwindung finden: Dann reisen wir nicht mehr, sondern materialisieren uns mittels Knopfdruck am gewünschten Ort. Dann allerdings wären auch Bahnhöfe obsolet, ob über oder unter der Erde. Allerdings wird es bis zu dieser technologischen Stufe noch eine Weile dauern. Sie kann also für das 21. Jahrhundert noch kein Argument gegen einen Bahnhofsneubau sein.
Und doch ist die fortgesetzte Beschleunigung in der analogen Welt der wirklichen, körperlichen Dinge und Lebewesen ein Prinzip, das in die Krise geraten ist. Wir kennen inzwischen die Dialektik der Aufklärung; wir wissen um die Grenzen des Wachstums; wir erleben, dass Natur nicht unendlich ausbeutbar ist. Der Fortschrittsglaube ist ziemlich ruiniert. Das zwingt uns dazu, das Verhältnis zu Raum und Zeit neu auszurichten.
Denn nichts anderes ist der Fortschritt: Er beruht darauf, den Raum (die Natur) zu vernutzen, um Zeit (Freiheit) zu gewinnen. Ressourcenverbrauch + Zeitgewinn = Fortschritt. Ein Bahnhof inklusive Hochgeschwindigkeitstrasse ist der natürliche Ort, an dem sich dieses Verhältnis bestimmen lässt. Und wenn, um ihn zu bauen, schöne alte Bäume als Repräsentanten von in Jahresringen geronnener Dauer gefällt werden müssen, bekommt dieser Kampf um Natur und Freiheit gleich noch ein zweites, wirkungsmächtiges Symbol.
So lässt sich auch erklären, dass gerade diejenigen Personen und Parteien, die sich selbst als konservativ verstehen, am entschiedensten für das Neue in Gestalt des Bahnhofs sind. Denn es gibt nichts Älteres als das Konzept des Fortschritts, für das sie damit fechten. Wer im 21. Jahrhundert den Fortschritt verteidigt, der im 19. Jahrhundert erfunden wurde, muss ein wahrhaft Konservativer sein. Es handelt sich dabei um eine Glaubensfrage, die wie jede religiöse Ausrichtung rationalen Argumenten nicht zugänglich ist. Die Fortschrittskonservativen setzen, um ihren Glauben zu behaupten, nicht nur die Natur aufs Spiel, sondern darüber hinaus das Kostbarste, was sie haben: ihre Macht.
__________________________________________________________________
Kopfbahnhof oder Zeitgewinn ist ein
falscher und ziemlich dummer Gegensatz.
__________________________________________________________________
Dass es in Stuttgart weniger um den konkreten Neubau, als vielmehr ums Prinzip geht, lässt sich auch den Wortmeldungen der Bundeskanzlerin ablesen: Wenn Stuttgart 21 scheitert, so Angela Merkel, dann wird in Deutschland kein Großprojekt mehr durchsetzbar sein. Heißt das aber im Umkehrschluss, dass, nur um die parlamentarische Demokratie mit ihren Entscheidungsnöten zu retten, auch das durchgezogen werden muss, was sich als zu teuer und womöglich gar ineffizient erweist? Verträgt sich die Revision nicht mit Fortschrittskonservatismus?
Wie sinnig das verkehrspolitische Konzept von Stuttgart 21 ist, können nur Experten beurteilen. Wie viel Geld eine Gesellschaft ausgeben möchte, um eine mehr oder weniger spürbare Beschleunigung zu erzielen, ist allerdings eine Frage, zu der jeder Beteiligte und Unbeteiligte eine Empfindung entwickeln kann. Sind 10 Milliarden für dreißig Minuten Zeitgewinn gut ausgegebenes Geld? Schwer zu sagen. Eine sinnvolle Antwort ist auf rein quantitativer Ebene von Geld und Zeit wohl nicht zu finden, wenn nicht zugleich die qualitative Dimension berücksichtigt wird, also die Frage, wozu weiterer Zeitgewinn eigentlich dienen soll. Je mehr die deutschen Innenstädte sich einander anähneln, je schrecklicher die Fußgängerzonen mit den immer gleichen Ladenketten sich monotonisieren, umso sinnloser wird es, überhaupt noch in eine andere Stadt zu fahren. Welche Rolle spielt es, schneller in Ulm zu sein, wenn der Unterschied zwischen Stuttgart und Ulm verschwindet? Das Münster muss man ja nicht alle Tage besichtigen, und schon gar nicht ganz dringlich dreißig Minuten früher. Bleibt die ökonomische Bedeutung der Beschleunigung für Geschäftsreisende, die mit schnelleren Verbindungen womöglich ein paar Termine mehr in ihren Arbeitstagen unterbringen. Doch für diese Fälle bietet sich die immer sehr viel raschere Videokonferenz an. Und im Übrigen sind die Zugabteile längst zu rollenden Büros geworden, wo Akten studiert, Mails geschrieben, Telefonate geführt werden können.
Es gibt kaum einen Ort, an dem man konzentrierter arbeiten kann als im Zug. Das hat damit zu tun, dass man immer zugleich das Gefühl hat, auf angenehme Weise zielorientiert vorangebracht zu werden. Und für die Lektüre eines Romans braucht man nun mal eher mehr als weniger Zeit. So gesehen wäre Beschleunigung kontraproduktiv, denn jede gewonnene Minute geht von der Arbeitszeit ab. Ist es lächerlich, mit der Frage nach Zeitqualität auf ein High-Tech-Bauprojekt zu reagieren? Wenn Fortschritt bedeutet, das Verhältnis zu Raum und Zeit zu bestimmen, muss es aber eben auch darum gehen, die Zeit sinnvoll zu füllen. Geschwindigkeit ist schön. Man kann sie genießen. Aber sie ist nicht alles. Vor allem dann nicht, wenn man versäumt hat, vorher die richtige Richtung festzulegen.
Oben oder unten hat – auf Stuttgart 21 bezogen – jedenfalls nichts mit vorwärts oder rückwärts zu tun, wenn der Fortschritt in der Vergangenheit liegt. Kopfbahnhof oder Zeitgewinn ist ein falscher und ziemlich dummer Gegensatz. Wäre der Konflikt so primitiv, dann könnten wir ja einfach eine Münze werfen: Kopf oder Zahl.
Text: Jörg Magenau
- Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder - 6. September 2016
- Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod - 25. Dezember 2014
- Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915-1918 - 9. November 2014
Schreibe einen Kommentar