Lernen, sich vom Entsetzlichen verletzen zu lassen
Der israelische Schriftsteller David Grossman nahm in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen.
„Auch wenn man wichtige Dinge zu verhandeln hat, man muss immer auf das Fernsehen warten.“ Die launige Bemerkung von Gottfried Honnefelder, dem Leiter des Börsenvereins gewann keine Lacher. In der Paulskirche ist dem Publikum das Schweigen Ehrensache; jede Gefühlsregung überlässt es freundlich den geladenen Rednern. So auch in diesem Jahr, in dem der israelische Schriftsteller David Grossman für seinen Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhält.
Die Laudatio obliegt diesmal Joachim Gauck. Es sei ein Glück, setzt dieser an, endlich dem „real existierenden“ David Grossman zu begegnen. Ein kleiner schlechter Scherz. Doch wer den ehemaligen Leiter der Gauck-Behörde einlädt, kriegt nun mal DDR-Geschichte. Und viel Kitsch. Wir alle hier, fährt unser heimliche Präsident beherzt fort, seien „Dürstende“. „Immer in der Gefahr, in den Wüsten unserer Zeit zu verschmachten, sehnen wir uns nach Menschen, deren Denken und Reden und Schreiben uns hoffen lässt, die Zukunft könne Frieden und Recht bringen.“ Und ganz Staatsvater lobt er David Grossman nicht nur, er teilt auch wenig des Tadels aus. Zukünftig möge David Grossman doch bitte nicht nur die USA und England, sondern auch Deutschland als Freund Israels anerkennen. Eine Figur in Grossmans Roman hatte auf die Frage nach den Freunden Israels, nur diese beiden Nationen genannt. Da habe sich der Laudator doch erschrocken. Schließlich aber schlüpft just jener Mann offenkundig angstfrei in die Rolle des Großpredigers: „Wir rühmen und preisen heute jene, die nicht weichen. Danke David. Du steht vor deinem Goliath, dem alltäglichen Hass – nicht einmal wie früher mit einer Steinschleuder. – Aber du bist David.“ Mein Gott.
Ja, und dann steht David Grossman im schwarzem Jackett, grauer Krawatte und passender Tuchhose auf und bedankt sich bei all seinen LeserInnen, seinen Mitstreitern und bei seiner Frau Michal, die in der ersten Reihe sitzt und mit ihrer Anteilnahme so gar nicht in das saturierte Publikum passt. Wenige Minuten später wird sie sich dezent die Augen trocken und die zweite und dritte Reihe links von mir zur Hälfte einnicken. Verdiente Frankfurter Einzelhändler mit ihren verdienten Einzelhändlergattinen sind des Sonntagmorgens eben ein wenig müde.
Grossmans fehlt jene Gleichgültigkeit der Bessergestellten. Seine Stimme ist leise, sein Englisch hat einen starken Akzent, gleichzeitig ist der 1954 in Jerusalem geborene Künstler ein geübter Redner und mag solche Auftritte offenbar auch. Ja es scheint, als ob ihm die Ehrung tatsächlich etwas bedeute. Fragte man ihn, so setzt er an, was er sich wünschte, dann wäre Frieden seine Antwort. Bliebe der Fragende aber beharrlich und stelle fest, dass mit Frieden in nächster Zeit ja nicht zu rechnen wäre, was würde er dann antworten?
Ich würde, sagt Grossman, „gern lernen, mich all dem Entsetzlichen, all dem Unrecht, das dieser Konflikt uns im Großen und im Kleinen jeden Tag beschert, so weit wie möglich auszusetzen; nicht aufzuhören, mich von ihm verletzen zu lassen.“ Ausgerechnet Deutschland zeige, dass sich eine Gesellschaft als Demokratie neu erfinden kann, selbst wenn sie von einem Ort aufbricht, „an dem die Menschlichkeit selbst zerbrochen wurde.“ Seinem Land sei es bis heute nicht gelungen, den jüdischen Menschen von seiner „bitteren Grunderfahrung zu heilen: dem Gefühl, auf der Welt heimatlos zu sein.“ Da helfen nur feste Grenzen. Mitnichten sei das trivial, setzt er nach. Ohne Grenzen kein Land – und ohne Land kein Frieden. Den aber gäbe es nur, wenn mental Grenzen überschritten werden. Ohne Verständnis dafür, dass das Schicksal der Palästinenser und der Israeli untrennbar miteinander verwoben sei, blieben Friedensverhandlungen fruchtlos. Israel müsse seine Geschichte noch einmal neu zu schreiben beginnen. So unaufgeregt diese Forderung daher kommt, sie besagt doch nichts weniger, als dass Israel der alten Gründungslegitimation eine zeitgemäße hinzufügen müsse. Gerissen schließt Grossman seine Rede denn auch mit einem weiteren Doublebind: „Auf dass wir nicht mehr Opfer werden, nicht unserer Feinde und nicht unserer eigenen Ängste.“
Mit seinem Grenzspiel führt der Literat in Frankfurt seine Haltung vor, die seine Romane so berührend, gelegentlich auch verletzend machen: Die Kunst der Zweischneidigkeit, des nüchternen Urteils ohne Verurteilung, der List des Erzählens, mit der Gut und Böse als Antipoden beständig in Frage gestellt werden, mithin die LeserIn sich nie in Sicherheit wiegen kann, sich auf die Seite der moralisch richtigen Protagonistinnen geschlagen zu haben. So zart Grossman mit seinen Figuren umgeht, er befragt sie unablässig – und damit auch sich selbst und die LeserIn – ob sie nicht mehr oder weniger bewusst auch Profit aus dem Kriegsgeschehen im Land und in der Familie schlügen. Sein Imperativ: Wie kannst du versöhnen, obwohl deine Wut doch so berechtigt ist? Grossman lässt keine seiner Figuren fallen, bleibt sie hinter diesem Anspruch zurück. Und doch ist Scheitern ihm kein Grund abzurücken von der Vision, dass Frieden möglich ist: „Wer die Möglichkeit des Friedens aufgegeben hat, ist schon geschlagen. Er hat das Schicksal des anhaltenden Krieges im Grunde über sich selbst verhängt“, sagt er in der Paulskirche.
Der Applaus fiel gediegen aus. Der Mantel wartete ja bereits an der Garderobe.
Text: Ines Kappert
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