Unsterblichkeit im andern schon gefunden
Es gibt Geschichten, die sind so einfach, anrührend und schön, dass man ihnen ziemlich wehrlos ausgeliefert ist. Und wenn sie dann noch im Kino sorgfältig, liebevoll und mit einer letzten, den Kitsch vermeidenden Distanz erzählt werden, mit Schauspielern, die auch noch den Nebenrollen ein eigenes Leben und den Respekt vor ein paar Geheimnissen verleihen, dann schmilzt das Kritikerherz, als wäre es bei der harten Suche nach der Wahrheit im ewigen Eis von einem Sonnenstrahl getroffen.
»The Mighty« ist so eine Geschichte. Sie erzählt von Maxwell Kane (Elden Henson), 13 Jahre, in seinem massigen, ungeschickten Körper ebenso wenig daheim wie im Haus seiner Großeltern, die er Gram (Gena Rowlands) und Grim (Harry Dean Stanton) nennt, und die für sich, für ihn und für die Welt kaum noch ein Lächeln haben, obwohl sie es immer wieder versuchen. Mit der Zeit werden wir erfahren, warum das so ist. In der Schule ist Max der immer gehänselte Außenseiter, er tut sich immer noch mit dem Lesen schwer und ist auch im Sport stets der fall guy. Es ist die Hölle einer Kindheit in Cincinati.
Eines Tages ziehen neue Nachbarn nebenan ein, Kevin Dillon (Kieran Culkin) und seine Mutter (Sharon Stone). Kevin leidet am Morquios-Syndrom, jener Krankheit, in dem der äußere Körper verkümmert, während die inneren Organe wachsen. Nach anfänglichen Konflikten finden die beiden zusammen, sie werden mehr als Freunde, eine neue Einheit, der phantasiebegabte und neugierige Kevin auf den Schultern des starken aber gehemmten Max. »Du brauchst einen Kopf, und ich brauche Beine«, sagt Kevin am Anfang ihrer Partnerschaft ziemlich sachlich. Aber daraus wird mehr als nur die gegenseitige Unterstützung bei den Handicaps. Schon bei der allerersten Heldentat der beiden (sie gehen dazwischen, als ein Mann eine Frau in einem Restaurant attackiert) erlebt Kevin erstaunt und beglückt, daß er nicht der Ritter auf einem stummen Pferd ist; sie beide sind der Ritter, sie beide sind das Pferd. Gemeinsam können sie alles, was andere Kinder ihres Alters können, mit einem Unterschied: Sie erfahren jeden ihrer Schritte als Teil eines gemeinsamen Bewußtseins. Daher wächst dieses ritterliche Zweierwesen so rasend schnell. So werden sie sogar stärker als der üblich fiese Anführer der Klassen-Gang, werden zu einem Ritter der Tafelrunde, wie sie in Kevins Lieblingsbuch beschrieben sind, und ziehen durch Cincinati, als wäre es das Abenteuerreich, das durch die großen Taten verzaubert werden kann. Aber gerade eine dieser Taten führt Max an den Ursprung seines Leidens. Er begegnet seinem Vater Kenny (James Gandolfini), der nach neun Jahren aus der Haft entlassen wurde, zu der man ihn wegen des Mordes an seiner Frau, an Max‘ Mutter, verurteilte. Und dieser wiedergekehrte Mörder-Vater ist der furchtbarste aller Drachen; er entführt Max, und natürlich kann nur Kevin ihn retten. Der große Ritter wird geboren und muß sterben, und hat doch seine Unsterblichkeit im anderen schon gefunden. Ein Mittel gegen die Tränen ist das nicht.
Gewiss ist diese Geschichte viel zu traurig, zu abenteuerlich und zu schön, um wahr zu sein, obwohl sie, zuerst erzählt in dem Jugendbuch »Freak the Mighty« von Rodman Philbricks, direkt aus dem Leben gegriffen ist. Aber sie funktioniert auch nicht so einfach als eine Form der erlösenden Phantasie über einer Todeserfahrung wie etwa bei der Astrid Lindgren-Verfilmung »Die Brüder Löwenherz«. Und schon gar nicht wird die Phantasie zum bloßen Fluchtreich für ein gepeinigtes Kinderherz wie in der »Unendlichen Geschichte«. Stattdessen werden die Bilder der Phantasie auf die Wirklichkeit zurückgeworfen, sie beflügeln, aber sie ersetzen nicht die Selbstbefreiung. Daher verzichtet der britische Regisseur Peter Chelsom (der mit »Funny Bones« bekannt wurde) in seinem ersten amerikanischen Film darauf, in Bildern der Phantasie zu »schwelgen«, er benutzt sie als »flashes«, manchmal genügt auch ein musikalisches Zitat, und verlässt sich ansonsten auf das, was Kevin zu Max in ihrer ersten gemeinsamen Lesestunde sagt (und was, wie wir später erfahren, die Geburtsstunde eines Autors ist): Jedes Wort ist Teil eines Bildes, jeder Satz ist ein Bild. Chelsom filmt gleichsam die »Sätze«, die die Bilder generieren, die Blicke seiner Helden, ihre Wirklichkeit anstelle der zu Tode gefilmten Fantasy-Bilder. Deswegen verhält es sich so, dass »The Mighty« nicht von Kindern handelt, die davon träumen, Helden zu sein, sondern von zwei Leidensgeschichten, aus denen, durch Freundschaft und Phantasie, wirklich eine Heldengeschichte wird. Und natürlich ist es, neben dieser einfachen Freundschaftsgeschichte, auch eine Geschichte vom Geist und vom Körper, die auf die wundervolle Utopie hinausläuft, dass der Körper die Geschichte des vom Tod gezeichneten Geistes zu Ende schreibt. Oder anders gesagt: »Dummheit« ist nicht körperlich, sondern sie ist gesellschaftlich produziert. So wird ein Mensch zum Engel des anderen, in einer versteinerten und dämonischen Welt. Den Gral haben die Ritter der Tafelrunde, wir wissen es, vergeblich gesucht. Aber weil sie zu suchen begannen, weil sie das verwunschene und versteinerte Schloss ihrer Herkunft verließen, begannen sie ein neues Zeitalter. Das Zeitalter der Emotion.
Autor: Georg Seeßlen
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