Scorsese-Blick
Ich sehe mir einen deutschen Film an. Ausnahmsweise freiwillig, weil mich das Sujet und die Leute neugierig gemacht haben, die an ihm beteiligt sind. Eine Gangstergeschichte aus Altona, St. Pauli, die Geschichte von drei Freunden, einem Türken, einem Griechen und einem Serben. Ich lege es mir schon zurecht, das nächste Kapitel der unendlichen Geschichte von Hoffnungen und Enttäuschungen.
Aber dann fängt es an, und es dauert nicht lange, und ich bin wirklich drin in diesem Film. Verdammt, ja. Ich leide mit den Menschen auf der Leinwand, ich liebe und hasse sie, ich habe Angst und bin verliebt, ich spüre, wie Menschen etwas erleben, das größer ist als sie selbst, und die daran kaputtgehen, und ich rieche, wie es in den Straßen von St. Pauli riecht. Im Kino-St. Pauli, denn natürlich komme ich nie in die Verlegenheit, die Geschichte einfach mit der Wirklichkeit gleichzusetzen.
Höchstens zwei, drei mal ist der Kritiker in mir erwacht. Ich habe ihm eins auf die Schnauze gegeben, damit ich in Ruhe »kurz und schmerzlos« ansehen konnte. Den einzigen deutschen Film seit langem, in dem ich lebte und der in mir lebte.
Dabei läuft alles über oft gesehene Genre-Muster, altbekannte Charaktere, wohlbekannte mythische Bausteine: Gabriel (Mehmet Kurtulus) ist Türke, Bobby (Aleksandar Jovanovic) Serbe, Costa (Adam Bousdoukos) ist Grieche. Es sind kleine Gauner, die sich mit allen möglichen Diebstählen, Hehlereien und illegalen Geschäften durchschlagen. Eigentlich fühlen sie sich ganz gut dabei. Aber die Zeit der Jugendgang ist vorbei, so wie bislang kann es nicht weitergehen. Gabriel kommt aus dem Gefängnis, dahin möchte er nicht zurück. Er will »erwachsen werden«, Taxi fahren für den Moment, doch vor allem träumt er davon, in die Türkei zurückzukehren, um an einem Strand im Süden ein Café zu eröffnen. Costa will einfach so weitermachen; daß seine Beziehung mit Gabriels Schwester Ceyda (Idil Üner) in die Brüche geht, bringt ihn allerdings aus dem Gleichgewicht. Bobby träumt davon, ein richtig Großer in der Unterwelt zu werden. Er stellt sich in den Dienst des Albaners Muhamer (Ralph Herforth), Bordellbesitzer und kleiner Pate von St. Pauli. Doch der Auftrag, den er für ihn erledigen soll, ein Waffendeal, geht gründlich schief. Und weil seine Freundin Alice (Regula Grauwiller) sich mittlerweile Gabriel zugewandt hat, ist es auch mit der Freundschaft der drei zu Ende. Nachdem der Albaner Bobby umgebracht hat, schwört Costa Rache. Vergeblich versucht Gabriel, den Showdown zu verhindern. Am Ende ist viel Blut geflossen und viele Träume sind kaputt.
Das ist die Geschichte. Sie funktioniert so gut, weil wir immer mehr über die Charaktere, ihre Familien, ihr Leben, ihre Einstellungen und ihre Träume erfahren, ohne dass sie vollkommen wegerklärt werden. Wir sind ihnen immer sehr nahe, und ihre Emotionen teilen sich sehr direkt auch in den Bildern mit. Die Schauspieler (und die Schauspielerführung) in diesem Film sind einfach Klasse.
Als der Film zu Ende ist, ist der alte Kritiker natürlich wieder da. Und jetzt lasse ich ihn reden. Es sind ein bisschen allzu fernsehkompatible Bilder, die der Film benutzt (Coproduzent ist das ZDF). Ich meine nicht das alte Fernsehen, bei dem man nur redende Köpfe sehen wollte, oder höchstens establishing shots- Zoom auf die Person – Schnitt- Gegenschnitt – Schwenk – Schnitt – Gegenschnitt wie in der »Schwarzwaldklinik«, sondern das neue Fernsehen mit dem breiten Bild und den Stereolautsprechern, das eine gehörige Portion Dunkelheit, Pastiche und Tiefenschärfe verträgt und doch nicht Kino ist. Es ist mehr als eine Frage der Distanz, es ist die Frage, wieviel Dechiffrierung man uns in einem Bild oder in einer Abfolge von Bildern zumutet. Ab und an hätte ich mir ein paar »schwierigere« Bilder gewünscht.
Schwerer wiegt: »kurz und schmerzlos« ist so definitiv auf die frühen und mittleren Scorsese-Filme bezogen, daß hier und dort die Hommage und die Fortsetzung in das Imitat übergehen. Nichts gibt es, was ich mir sehnlicher gewünscht hätte, als endlich einen Scorsese-Blick in einem deutschen Film!
Es geht nicht so sehr darum, dass jemand, der Scorsese nicht bloß in seinen Motiven, in seinen Symbolen, in seiner Verknüpfung von Gangstertum und Religion, Gewalt und Gnade, sondern bis in die jump cuts und den over-head shot folgt, seine eigene Meßlatte ziemlich hoch setzt. Es geht vielmehr darum, ob der Schüler die Lektion des Meisters wirklich gelernt hat. Und hier beginnt das Unglück.
Scorsese liebt seine Figuren, aber er lässt sie nicht in ihrem Mythos ruhen; wir gewinnen Distanz, vor allem im letzten Drittel von Filmen wie »Mean Streets«, schon früher in »Raging Bull», und schon sehr früh in »Goodfellas«, alles Filme, die in „kurz und schmerzlos“ zitiert werden. Unsere Distanz in den Scorsese-Filmen ist recht eigentlich sogar die Voraussetzung dafür, dass wir die Liebe zu ihnen nicht verlieren. In »kurz und schmerzlos« aber erfüllen die drei kleinen Gangster und geborenen Verlierer ihr mythisches Schicksal, das für sie vorbereitet scheint, fraglos im Opfer. Was »kurz und schmerzlos« am Ende fehlt, ist jene letzte analytische Schärfe, jene ironische Distanzierung, die bei aller Hitze einen Scorsese-Film auch wieder zur Kritik und Selbstreflexion führt.
»kurz und schmerzlos« ist ein religiöser Gangsterfilm aus einer Wirklichkeit, für die der deutsche Film endlich eine Sprache zu finden scheint, dem zum vollständigen Gelingen in seinem schönen cineastischen Zorn eine Spur zu viel Pathos, ein Kick zu wenig Genauigkeit im Blick unterlaufen ist. Aber das ist wirklich nur eine ganz und gar solidarische Kritik. Denn so wie »kurz und schmerzlos« stelle ich mir einen deutschen Film für die Zukunft vor, einen Film, der etwas zu sagen und etwas zu erzählen hat, mit großen Gefühlen, zärtlichem Blick auf seine Figuren und Neugier für das Leben.
Autor: Georg Seeßlen
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