Müll und Mythos
Comic-Verfilmungen waren im klassischen Hollywoodfilm Futter für die kiddie matinees, die Serials und die B-Produktionen, den schönen Unfug, mit dem der Bodensatz des Kino-Marktes versorgt wurde. Nun sind sie von der Peripherie ins Zentrum der Industrie gerückt. Das hat mit den Wandlungen des Konsumverhaltens zu tun: Comics haben das Ghetto der Kinderkultur verlassen und gehören mittlerweile zu den tragenden Elementen der popular culture; man mag sich über Sex & Drogen & Rock ’n‘ Roll streiten, Batman und Donald Duck sind bei Eltern und Kindern gleichermaßen respektiert. Das hat überdies mit den Strategien der Medienmultiplikation zu tun: Eine bereits eingeführte Bilderwelt wird durch den Film verstärkt und abermals in anderen Medien vermarktet. Das freilich macht die Comic-Verfilmung riskant. Der Erfolgszwang ist noch größer als der bei einer Bestseller-Verfilmung, denn ein Flop, wie Warren Beattys „Dick Tracy“, kann eine ganze Serie, ja ganze Comic-Genres ruinieren. Das Risiko mindern helfen Produktionswerte, Stars und die Nivellierung von Bild und Erzählung; Übersetzungen von Sex, Gewalt, Subversion und ästhetischem Eigensinn in die Sprache des Mainstream. Geraspelt, püriert und gemixt, werden die ursprünglich eher heftigen Zutaten leicht verdaulich und beliebig kombinierbar.
„Judge Dredd“ hatte seinen ersten Auftritt in dem englischen Comic-Magazin 2000 AD, am 5. März 1977, und er trug, am Ende der declining seventies, auf beängstigende und erheiternde Weise Frustrationen, unterdrückte Wut und Macho-Ängste mit sich herum. Im Jahr 2099 sieht alles noch genauso aus wie heute, nur viel, viel schlimmer, die Welt hat sich in eine unbewohnbare Wüste verwandelt, und die Menschen leben in Mega-Citys, in denen keine demokratische oder rechtsstaatliche Kraft mehr gegen die allfällige Gewalt hilft. Es sieht so aus, als wären in dieser Müll-Welt die Chaos-Tage zum Dauerzustand geworden. Da helfen allenfalls die Judges, die Polizisten, Richter und Vollstrecker in einer Person sind. Und der beste und härteste von ihnen ist Judge Dredd, der mit seinem „Lawmaster“-Motorrad und dem dramatischen Kernsatz „I am the law!“ auf den Lippen das Gesindel von der Straße putzt: kein Privatleben, kein Sex, keine Gnade. Er ist das Gesetz, und das ist alles, was er ist. Deshalb nimmt er auch nie seinen Helm ab, der auch so etwas wie die Verkleidung des Henkers ist.
Gute Menschen wissen nicht genau, ob sie sich mehr über den Pop-Faschismus der Serie oder über ihre maßlosen Geschmacklosigkeiten empören sollen. Schlechte Menschen, wie unsereiner, grummeln etwas von Reflexion des Mythenzerfalls, postmodernem Meta-Diskurs und Baudrillard. Aber in Wirklichkeit macht uns der Scheiß einfach einen Heidenspaß.
Der hält sich, was die Verfilmung durch den jungen Engländer Danny Cannon anbelangt, in gewissen Grenzen, nicht nur weil Judge Dredd völlig regelwidrig bald seinen blankpolierten Helm abnimmt und darunter das Gesicht von Sylvester Stallone zum Vorschein kommt. Die Story, die aus mehreren Comic-Vorlagen zusammengesetzt wurde, ist so lange bearbeitet worden, bis sie einigermaßen politisch korrekt und fast schon geschmackvoll daherkam. Es geht nämlich darum, dass Judge Dredd „vermenschlicht“ wird, und das macht man seit ungefähr dreißig Jahren mit drei Story-Tricks: Der Held erhält eine „Vergangenheit“, die erklärt, warum er so geworden ist, wie er ist; er bekommt ein love interest, das seine verschütteten Emotionen zum Vorschein bringt; und er macht einen Selbstfindungsprozeß durch.
Der Film-Judge Dredd gerät, weil ihn ein schurkischer Usurpator und sein bös geklonter Bruder mit einer falschen Mordanklage reingelegt haben, von einem Schlamassel in den anderen lernt dabei, daß sein „I am the law“ irgendwie Grenzen hat, dass es Spaß machen kann, von einer Frau geküsst zu werden, und dass man die Welt vor Leuten bewahren muss, die sich als Beschützer gegen das Chaos anpreisen, das sie selber anrichten. Weil er jetzt so eindeutig einer von den Guten ist, wirkt der Film-Dredd eigentlich reaktionärer als der Comic-Dredd, den wir jederzeit auch hassen können.
Freilich geht der Diskurs zwischen Fascho-Pop und satirischer Subversion auch im Umfeld des Neunzig-Millionen-Dollar-Films weiter. Während der Regisseur Danny Cannon in seinen Äußerungen eher auf das ästhetische Spiel mit der Vorlage eingeht, sondert Stallone in seinen Interviews den üblichen rechtspopulistischen Nonsense ab. Die Utopie des Mainstreams besteht offensichtlich gerade darin, das Widersprüchliche und Chaotische der subkulturellen oder trash-kulturellen Produktion in eine mehrfache Lesbarkeit zu verwandeln, in der jede Lesart für sich vollständig eindeutig erscheinen will. „Judge Dredd“ ist nicht, wie vielleicht noch das klassische Hollywood-Kino, „unpolitisch“ (oder besser: vorpolitisch); es ist ein Film, der politische Phantasien ebenso beliebig abrufbar macht und verstärkt und zu einem scheinbaren Konsens in der Mainstream-Kultur vereint, wie er ästhetische Impulse beliebig montiert. Von „Metropolis“ zum Western, „Blade Runner“ ohne Regen, „Dune“ ohne Lynch – „,Star Wars‘ meets ,Ben Hur'“, wie der Regisseur das nennt.
„Judge Dredd“ ist das Dokument einer Mythenbastelei, die unter den Händen der Bastler schon wieder zerfällt. Weder konnten sich die Schauspieler auf einen einheitlichen Darstellungsstil einigen – Armand Assante gibt den Mega-Al-Pacino, Max von Sydow möchte uns etwas vorleiden, und Joan Chen ist schon wieder im falschen Film -, noch macht die Dekoration aus ihren vielen Zutaten eine neue Einheit. Die Mehrfach-Codierung der Mainstream-Produktion birgt auch die Gefahr, dass sich niemand so richtig bedient fühlt. Die guten Menschen sind immer noch empört. Und die schlechten langweilen sich.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in DIE ZEIT 35/1995
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