Mutti ist schuld

Die ehemals tapferen Parteisoldaten der CDU, sie wollen nicht mehr, sie sind erschöpft. Und was macht ihre Chefin? Nichts, wie immer. Ungerührt bleibt Merkel ihrem weitgehend konzeptneutralen Pragmatismus treu: Wenn ihr nicht mehr wollt, so strahlt sie aus, oder wenn die Wähler euch nicht mehr wollen, dann werdet ihr eben ersetzt. Na und?

Warum nun ist diese Coolness von Merkel ein Affront? Woher kommt die Rede zumal in den Medien, dass Merkel sich nicht zu wundern brauche, wenn ihr die mächtigen Männer wegliefen, wenn sie mit diesem ihrem Machtgebaren bald ganz allein (in Klammern: nur mit Frauen) dastünde? Erinnern wir uns: Noch vor Kurzem wurde Merkel von Parteikollegen als „Mutti“ geschmäht. Seehofer soll der erste gewesen sein, der die mächtige Frau auf diese Weise in sein Weltbild eingepasst hat.

Der Mutter kann man auch als Mann gehorchen, aber keiner anderen Frau. Nun jedoch verhält sich „Mutti“ nicht mütterlich. Sie schützt und stützt nicht ausreichend, heißt es empört, die Männer, die ihr die Führung überließen, warten vergebens auf eine Gegenleistung für ihre Gefolgschaft. Entsprechend sinkt ihre Motivation, einer solchen Rabenmutter weiter zu dienen. Die denkt ja doch nur an sich selbst.

Die hingebungsvolle Klage über die unmütterliche Mutti zeigt, dass es offenbar für weiße, heterosexuelle Männer opportun ist, sich als Opfer einer weiblichen Vorgesetzten zu gerieren. Dieses Eingeständnis überrascht. Denn bisher hatte man angenommen, Männer dürften ihre Schwächen nicht öffentlich machen, weil sie dies ihre Privilegien koste – wer unterstützt schon eine Memme? Gerade feministische Kreise gingen davon aus, dass männliche Dominanz abgesichert wird, indem über Männlichkeit geschwiegen wird.

„A man’s got to do what a man’s got to do“, wer kennt nicht diesen Spruch von John Wayne? Im Klartext: Ein Mann handelt, er muss sich nicht erklären. Da sich der weiße Mann darauf verlassen kann, selbstverständlich als das Maß der Dinge zu gelten, obliegt es allen anderen, mithin Frauen, Schwulen, Lesben, Migranten und Politikerinnen, ihre Identität in Worte zu fassen und ihre Handlungen zu rechtfertigen.

Tatsächlich hat die Tabuisierung von Männlichkeit bis vor Kurzem viele weiße Männer davon enthoben, über ihr Verhältnis zu Geschlecht und Macht nachzudenken oder sich gar öffentlich dazu zu äußern. Doch inzwischen ist die Situation komplizierter geworden. Auch die nicht enden wollende Diskussion über Merkels demotivierenden Führungsstil zeigt, dass sich die Kommunikationsstrategien verändert haben.

So hat es für brüskierte (Minister-)Präsidenten verschiedene Vorzüge, Merkel als unzuverlässige Schutzpatronin anzurufen. Der offensichtliche: Niemand fragt mehr nach der eigenen Verantwortung, sondern Mutti ist schuld. Sie hat die Zügel zu sehr angezogen. Gleichzeitig lässt sich mit dem Mutti-Narrativ die eigentlich drängende Frage deckeln: Wie könnte ein zeitgemäßer Konservativismus aussehen? Mithin ohne offenen Rassismus (ohne Koch), ohne Bestechung (ohne Rüttgers), ohne Egowahn (ohne Althaus). Die WählerInnen nämlich goutieren derartige Auswüchse nicht mehr. Das ist das eigentliche, ungelöste Problem.

Mit dem Mutti-Narrativ bewältigen die gekränkten, überlasteten Herren aber nicht nur ihr ernüchterndes Karriereende – sie ebnen sich durch die Aneignung des Geschlechterdiskurses geschickt den Weg in ein Leben jenseits der Politik. Ziel der Sehnsucht ist die Wirtschaft, denn dort ist die Welt anerkennungstechnisch noch in Ordnung, weil dort ein Mann noch vor jeder Leistung als Mann zählt und bezahlt wird. Frauen sind hier, anders als in der Politik, in den Führungsetagen kaum zu finden.

Und so lassen die Expolitiker das verdutzte Publikum in ihren Abschiedsreden wissen: Wir können auch anders, wir haben Geld und Beziehungen. Die Wirtschaft liebt uns immer noch, und zwar schon deshalb, weil wir keine Frauen und auch keine MigrantInnen sind. Seht euch nur die Statistiken an. Wir sind dann mal weg.


Text: Ines Kappert

Text erschienen: in taz, 21.07.2010