Alles ist fast wie immer, in diesem Sommer: Die Sonne scheint, der Capuccino schmeckt und ist, zusammen mit einer Focaccia für 2,20 Euro, noch erschwinglich; an manchen Badeanstalten am Meer prangt das Schild „Spiaggia completa“, trotz Preisen zwischen 15 und 25 Euro für den Tag; man redet über Fußball und Kochrezepte, und die Politik, ach die Politik. Lasciamo perdere.
Die Zonen des Mangels freilich bewegen sich immer näher an die Strände heran. Man sieht es zum Beispiel daran, dass Leute, die sich noch vor ein, zwei Jahren wahrlich zu gut dafür gewesen wären, nun bei den teutonischen Discountern wie „Lidl“ einkaufen. Lidl-Tüten, offenbar haltbarer als die der einheimischen Coop- und Dico-Läden, wurden zu bevorzugten Transportmitteln bei den sozialen Verlierern, Bettler und Schwarzhändler drücken sich da herum, der Berlusconi-Staat, stellt sich gerade heraus, ist bei der Rate dessen, was von den Steuern für das Soziale, für Familien und Kinder zurückgegeben wird, ganz weit unten im europäischen Vergleich. Hier gibt es Kinder, die Hunger haben, und man kann, wenn man denn will, die andere Seite unserer fröhlichbunten Idealwelt im Süden auf den Straßen gleich hinter den Promenaden und Einkaufsgassen sehen: Italien kann sehr kalt sein.
Aber endlos kann doch auch diese Herrschaft des rundköpfigen Grinsemanns nicht dauern, der das Land nicht nur politisch sondern auch sozial so tief gespalten hat, oder? Soviel ist sicher: Die Ära Berlusconi neigt sich dem Ende zu, erst einmal persönlich. Die Zeitungen schreiben nicht mehr in erster Linie zu den neuen Sottisen des Cavalliere oder den Ungeheuerlichkeiten seiner Minister, die sich brüsten, Sarkozy habe seine miese Politik gegen die Roma bei ihnen abgeschaut, sondern darüber, wie Berlusconi bei der letzten Pressekonferenz gewirkt habe: „müde und gereizt“, „unausgeschlafen“, „zerknittert“ und immer wieder: „erschöpft“. Man beginnt an der bella figura zu zweifeln, da schimmert ein alter, böser Mann durch die Maske des Erfolgs, vielleicht sehnt man sich nach einem menschlichen Ende, nach einem ermatteten Wegtreten des Symbols dieser langen, destruktiven Phase der italienischen Nachkriegsgeschichte. Aber das ganze Land ist, sieht man ein wenig genauer hin, eben dies: müde und gereizt.
Beneidenswerte publizistische Vielfalt ist der hysterischen Einfalt gewichen.
Doch zu den Bildern vom Besuch Ghadhafis beim „caro amico Silvio“ scheint dieses absurde Gefühl kurz noch einmal wieder auf; da begegnen sich zwei Politiker, die das Bild von „Staatsmann“ oder „Herrschaft“ ins Trash-Format gekippt haben. Diese beiden politischen Kasper mit Blut an den Händen wirken, mitsamt ihrer Entourage wie aus einem C-Film der siebziger Jahre, als wären sie geraden Wegs aus einer Reality- oder SitCom-Sendung des italienischen Fernsehens gekommen, würde sich dieses wenigstens noch eine Portion sarkastischen schlechten Geschmacks erlauben. In den Ländern dieser beiden, nun ja, Herren, sind indes Generationen herangewachsen, die nie eine andere Form der Herrschaft kennen gelernt haben. Für viele italienische Teenager ist Berlusconismus der Normalzustand, weder besonders gut noch besonders schlecht, nur auf eine zähe Weise in der Gesellschaft verhakt, etwas das man hin- und mitnimmt oder am besten ignoriert und verachtet. Die das okay finden, reden nicht darüber, die es zum Kotzen finden, verzweifeln eben nicht nur an einer Regierung, sondern an einer Gesellschaft, an ihrer Gesellschaft. Die kleinen und großen Kämpfe gegen den Berlusconismus, der zähe Schleim der Korruption, der sich immer wieder um die kleinen Siege schloss und sie in Niederlagen verwandelte, das Scheitern an einem, der mit offensichtlicher Zustimmung eines Großteils der Wähler lügt, betrügt und manipuliert (und das sind noch die harmloseren Vorwürfe), das alles hat viel Kraft gekostet. Daher auch diese kulturelle Lähmung, die so augenfällig ist: Die einst beneidenswerte publizistische Vielfalt ist der hysterischen Einfalt gewichen, die wir von unseren eigenen Zeitungs-Auslagen kennen, Promis und Quatsch; wichtige Kulturzeitschriften kämpfen ums Überleben oder suchen, wie Alphabet, bei einem Neustart verlorene Identität, aber was soll man noch sagen, nach all diesen Jahren?; auch das italienische Kino badet in Selbstmitleid und, immerhin, Menschlichkeit, wenn es nicht ohnehin um Beziehungsklamotten oder Mittelstands-Feelgood Movies geht – selbst international ausgezeichnete Schauspieler wie Elio Germano („Unser Land kann man kaum noch demokratisch nennen“, meint er, und: „Das Cinema militante gehört einer anderen Epoche an, aber augenblicklich ist es schon schwer genug, Leute zu finden, die wenigstens ihr Handwerk mögen und nicht nur auf Profit aus sind“) finden im italienischen Kino einfach keine lohnenden Rollen und ziehen sich aufs Theater zurück, so lange es das noch gibt. Alles, was man gegen Berlusconi und den Berlusconismus sagen, schreiben, bilden, filmen, spielen konnte, hat man schon vor Jahren getan, sogar alle Witze über ihn und die Seinen sind lange gemacht. Die Opposition, so scheint es, hat nicht nur keine großen Führer, sie hat auch keine große Sprache und keine großen Bilder. Der Zorn wird seine Ohnmacht nicht los. Im nach-berlusconischen Italien wird man sich, wenn es eben nicht doch erst noch schlimmer werden muss, bevor es besser wird, mit einem Wandel in kleinen Schritten, vor allem mit der Suche nach einer neuen politischen Sprache abfinden müssen. Was sich gegen das berlusconistische Bündnis formiert, führt nicht mehr das „Linke“ im Banner als vielmehr schlicht „das Demokratische“. Der politische, kulturelle, soziale Wandel scheint einerseits zum Greifen nah. Aber es ist ein Griff in den Nebel; dieser Wandel kann sich nur auf eine fragile Union von Menschen mit gutem Willen stützen, von einer „pluralen Linken“ träumen die Mutigsten, was schon problematisch genug ist, die meisten anderen wären schon zufrieden, wenn man den Berlusconismus sacht zügeln könnte, ein wenig mehr Demokratie, ein bisschen weniger Korruption, etwas soziales Mitgefühl, bitte.
Berlusconi, das ist vor allem die Abwesenheit einer politischen Persönlichkeit, die seinem Land ein Projekt abverlangen würde, von einer Moral ganz zu schweigen.
Berlusconismus ist keine Regierungs- sondern eine Gesellschaftsform, und Berlusconi selber ist nicht allein deshalb so ein prächtiger Repräsentant, weil Italien diese Typen liebt, die man anderswo ganz einfach als „Arschloch“ bezeichnen würde, die mit einer blendenden Unverschämtheit mit mehr oder weniger allem durchkommen, und weil sich in seiner Korruption die Korruption spiegelt, die man sich selber gönnt. Berlusconi, das ist vor allem die Abwesenheit einer politischen Persönlichkeit, die seinem Land ein Projekt abverlangen würde, von einer Moral ganz zu schweigen, er sorgt für sich selber und spielt sich auf, aber in Wirklichkeit ist das Land sich selbst überlassen.
Eine politische Karikatur, über die hier niemand lacht aber viele grimmig nicken: Zwei (etwas müde wirkende) Männer im Gespräch. „Die Regierung dieses Landes wird das Ende der Legislaturperiode wohl nicht mehr erleben“, sagt der eine. Und der andere gibt zurück: „Ich wäre schon froh, wenn das Land noch das Ende der Regierung erlebt“. Das gibt diese merkwürdige Endzeitstimmung ziemlich genau wieder: Das Auseinanderbrechen der berlusconistischen Allianz, das man sowohl psychologisch (einer wie Berlusconi kann keinen Nachfolger aufbauen) wie politisch interpretieren kann (die vom neoliberal-mafiösen Berlusconi angerichtete Malaise lässt den neofaschistisch-skrupellosen Fini als Alternative erscheinen), erzeugt ein fatales Gefühl. Man möchte es kaum glauben, aber es kann wirklich noch schlimmer werden. Jedenfalls eher als besser. Natürlich gibt es auch Hoffnungen auf einen Neuanfang: Kleine Erfolge im Kampf um die juristische Unabhängigkeit, immer wieder mutige Einzelne, im Kampf gegen Korruption und Mafia, man sucht nach „Schlüsseln für den Wandel“, wie etwa die „primarie“, die Vorwahlen, durch die die Wähler mitbestimmen können, welche Kandidaten aufgestellt werden und der Ämterpatronage entgegen wirken könnten, zum Beispiel, und die bei der Union der Centrosinistra-Opposition seit 2005 durchgeführt werden. Zum Erfolg der neuen primarie-Kampagne dieser Tage sagt die Schauspielerin Ottavia Piccolo: „Dieser Sieg zeigt, dass die politische Basis in Italien zwar enttäuscht, aber nicht verschwunden ist“. Bescheidene Siege, fürwahr. Die Demokratie in Italien, so scheint es, muss auch formal noch einmal neu erfunden werden. „Ja zu den primarie, aber noch mehr Ja zur Auswechslung der alten politischen Klasse“, schreibt ein Leser an die Unità. Das ist eine Mordsarbeit für die nächsten Jahre, und besonders interessant auch auf der anderen Seite der Alpen, weil auch der teutonische Schrebergarten-Berlusconismus von Merkel und Westerwelle uns irgendwann mit der notwendigen Generalüberholung der Demokratie konfrontieren wird. Deutschland 2010, das ist mehr oder weniger Berlusconismus ohne Berlusconi.
Korruption und Mediendebilität, binnenrassistische ökonomische Separation und Faschismus.
Berlusconismus ist die verschärfte Art dessen, was Colin Crouch die „Postdemokratie“ genannt hat (das Buch dazu ist übrigens zuerst in Italien erschienen): Die demokratischen Rituale wie Wahlen oder Gerichtsverhandlungen finden noch statt, es gibt eine nominelle Pressefreiheit, Menschen- und Bürgerrechte sind „ausgehölt“ aber nicht abgeschafft usw., aber wirkliche Entscheidungen finden nicht mehr in den Parlamenten statt, die Politik wird immer weiter in Medien-Unterhaltung aufgelöst, Lobby und Klientilismus beherrschen die Regierung, die die Bevölkerung ihrerseits durch populistische Phantasmen, wenn es sein muss auch mit wohlfeilen Feindbildern (überall lauern noch die finsteren Kommunisten), mit Nationalismus und Rassismus füttert – na, wir kennen das ja, nur ist es eben in Italien ein wenig fortgeschrittener und etwas geschmackloser präsentiert.
Die Formel ist ganz einfach: Eine Hälfte Korruption und Mediendebilität, ein Geben und Nehmen zwischen Industrie und Politik mit dazu gehöriger Nonsense-Rhetorik (dafür steht Berlusconi selber), ein Viertel binnenrassistischer ökonomischer Separation, regionale Vorteilsnahme und Klassen-Interesse (die Lega Nord, die verrückterweise auch Anhänger im Süden hat) und ein Viertel Faschismus (mehr oder weniger) light: Fini und die seinen, die es von faschistischer Ökonomie bis zur Mussolini-Nostalgie treiben. Die drei Alliierten des Berlusconismus repräsentieren die verschiedenen Varianten der postbürgerlichen Interessenlagen (man könnte auch, ohne Illusion, sagen: drei mehr oder weniger kriminelle, asoziale und sub-demokratische Überlebensstrategien, oder noch einfacher, drei Arten ein Arschloch zu sein), einander ergänzend und partiell widersprechend, aber gut aufeinander abgestimmt an den rhetorischen und ikonographischen Schnittstellen.
Diese Allianz wäre eigentlich perfekt, sie könnte mit ein paar Akzentverschiebungen ewig so weiter machen, denn sie repräsentiert die offensichtlichen Impulse, Interessen und Phantasmen des sich immer weiter auflösenden und daher immer breiteren Mittelstands. Es sind keine politischen Parteien mehr, auch nicht im postdemokratischen Sinne, sondern meta-politische Bewegungen, die nicht einmal in sich selbst, geschweige denn in der Dreier-Konstellation diskursiv zu fassen sind (dafür um so präziser als ideologische Bilder): die offenen Geheimnisse der eigenen politischen und sozialen Verkommenheit, die sich am einfachsten in der Sprache der Unterhaltung ausdrückt.
Nun freilich ist Berlusconi selber das Problem des Berlusconismus geworden. Die Balance der Dreiecks-Allianz ist wohl nicht zu retten. Wenn er weg ist, könnte allerlei passieren, von einer Vorherrschaft der Protofaschisten über ein demokratisches Bündnis, das sich beim Trümmeraufräumen weiter erschöpfen müsste bis zu einer Offenbarung der wahren sozialen Verbrechen in der Berlusconi-Ära. Man weiß nicht so recht, vor was man sich mehr fürchten muss, jedenfalls wird Berlusconis Abgang, so oder so, nur ein kurzes Freudenfest folgen. Danach wird Italien, noch im besten Fall, nach vielen verlorenen Jahren die schwere Arbeit an einer sozialen Demokratie wieder aufnehmen müssen. Vielleicht wird es dann auch wieder Spaß machen, am Strand zum Capuccino „Il Manifesto“ zu lesen.
Georg Seeßlen
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