Wo Tag und Nacht die Triebwerke heulen:
1. Teil einer Pilgerreise in die wunderbare Welt des Würzburger Prälaten Berthold Lutz

Der Ehrentitel Katholik, der schönste, den es in menschlicher Sprache gibt.

Paul Claudel

Es brummen Honigbienchen

Es hüpfen die Kaninchen …

Bill Ramsey: Auf der bunten Hollywoodschaukel

„Es gibt eine Nähe zwischen den Plätzen, wo man betet, und denen, wo man kopuliert“, stellte Peter Hacks 1988 in Linke Arbeiter fest. Daß kirchliche Anlagen „Stätten der Ergießung“ seien, wird heute niemand, der ein Zeitungsblatt auseinanderfalten kann, mehr bezweifeln (genausowenig, daß es Kommissar Higgins 1967 mitnichten gelungen sein kann, dem Mönch mit der Peitsche das Handwerk zu legen). Höchste Eisenbahn, an das Werk eines Würdenträgers zu erinnern, dessen Thema „das Schönste“ und „Allerfeinste“ war – und der als größter Sexualmystiker deutscher Zunge gelten dürfte, hätte ihn die eigene Zunft, und mit ihr die Welt, nicht längst vergessen.

Der Würzburger Prälat und Expilot Berthold Lutz schuf Benimm- und Aufklärungsbücher mit Titeln wie Die leuchtende Straße und Das heimliche Königreich – Werke, die ihre kleinen Leser verzauberten und die Fachwelt begeisterten. Schon das Debüt fand den Beifall der Kritik. „Es ist bis jetzt noch kein besseres Buch geschrieben worden“, urteilte „Alt und Jung Metten“, die Hauszeitschrift des Klosterinternats Metten, und die Rezension des Poeten Oskar Neisinger („Gottes Gnade / kann auch auf krummen Zeilen / gerade schreiben“) schloß mit dem entzückten Ausruf „Führerbücherei!“ Damit war nicht der Bücherschrank von Bruno Ganz, sondern die Rucksackbücherei des Jungscharführers gemeint, in die Die leuchtende Straße umgehend Einzug hielt.

Schon bald bogen sich die Regale katholischer Kinderzimmer unter Titeln wie Frechdachs lernt Anstand und Wirbelwind verzaubert sich. Doch der Held unsrer Geschichte hat nicht nur zahlreiche Kinderbücher, sondern, zumeist anonym, auch unzählige Beiträge für die wohl beste Knabenzeitschrift der fünfziger Jahre verfaßt – ein erst dünnes, dann immer dicker werdendes, großzügig bebildertes Heft, das er zusammen mit seinem Freunde Georg Popp (nicht zu verwechseln mit dem Erfinder des Popp´schen Grundsatzes) erfand und im Alleingang betreute. Und dessen fröhlichen Namen wir jetzt, am Anfang der Geschichte, noch nicht verraten wollen.

Heute steht unser Mann im 88. Jahr und verzehrt, als Ordinariatsrat em., im Schatten zweier Glockentürme – die Stiftskirche St. Kilian ist für ihr Geläute mit besonders dicker Wandung (sogenannte überschwere Rippe) berühmt – seine kargen Prälatenbezüge. Wenn auch im Dezember 2009 überall im Bistum die Sektkorken geknallt haben (besonders laut in Würzburg, der Stadt früher Triumphe), die Feier der Diamantenen Priesterweihe wird den Jubilar nicht darüber hinweggetröstet haben, daß sein Werk verschollen und seine Lebensleistung vergessen ist. Die Bilanz könnte erbitternder kaum sein: die Frechdachs– und Wirbelwind-Bände aus den Beständen der Pfarrbüchereien verbannt, der Name Lutz von den Wunschzetteln gestrichen, auf denen er jahrzehntelang ganz oben stand …

Daß der Mann, der als Oswalt Kolle der katholischen Sexuallehre gelten muß, so gründlich vergessen ist, dürfte daran liegen, daß ihm schon früh eine Armee von Möchtegern-Kolles auf den Fersen war. Gottesmänner, deren Traktate in immer rascherer Folge die Schriftenstände der Gotteshäuser verstopften. Vorneweg Clemente Pereira mit seinen Billigbroschüren Wer sagt uns die Wahrheit?, Zwischen 13 und 17 und Mir nach! Ordensleben heute.

Der umtriebige Jesuit Pereira hatte sich, wie Lutz, Ende der vierziger Jahre dem Schülerapostolat verschrieben und seine einschlägigen Vortragsreisen bald weit über die Grenzen des heimischen Aloisiuskollegs – seiner aus Funk und Fernsehen bekannten Wirkungsstätte – ausgeweitet. Am Ende eines „geglückten Priesterlebens“ (wie bei Diamantenen und Eisernen Weihen die Floskel lautet) hatte Pereira eine Dreiviertelmillion Schüler agitiert, darunter den jungen Dieter Kunzelmann.

Epigonen wie Pereira mögen hinreißende Vortragskünstler, in manchen Belangen auch bessere Kenner des Körpers, seiner Kapricen und Kapriolen, gewesen sein. Doch ihre Prosa bleibt kniefällig und karg, ohne Klang und Schwung.

Wie anders dagegen Lutz! Ein fröhlicher Fabulant, der seine kleinen Leser bereits auf Seite fünf in einen knospenden Garten führt – hinein in ein magisches Reich voll frischgrüner Stengel und nickender Kelche. Blätter und Blüten, mit leichter Hand aufs Papier gestreut. Und dazwischen, auch das ist neu und selten, donnern die Motoren, daß die kleinen Eicheln, die genretypisch den Wegesrand säumen, lustig durcheinanderfliegen. Denn der Autor scheut sich nicht, seine Abenteuer als Bomberpilot, wo immer es die Handlung vorantreibt, ins gleichnishafte Spiel zu bringen.

Wenn auch vieles hölzern konstruiert und steifhosig formuliert ist, wenn auch der ältere Leser, der das meiste bereits aus trüberer Quelle besser weiß, über manch liebenswürdige Flunkerei stolpert, das Diktum Hermann Hesses – „Worte wie Samenkörner, die nach dem Lesen aufgehen und zu wachsen beginnen“ – findet bei Lutz seine Erfüllung: Ob Wirbelwind trainiert auf Haltung oder Der Feuerregen, wer sich dem Studium seiner Werke widmet und ein Herz für gewagte Bilder mitbringt, wird reich beschenkt.

Schlacht, Seenot, Lebensgefahr

Doch zunächst ein kleiner – privater – Rückblick. Es war im Frühjahr 1979, als ich, mit Ach und Krach volljährig geworden, dem Elternhaus den Rücken kehrte. Zum Abschied überreichte mein Vater mir eine Postkarte: „Zimmere dein Leben selbst“, las ich darauf, „aber laß dir von Gott die Maße angeben“.

Damit das Bauwerk gelingen möge, ließen meine Eltern mich ins „Goldene Buch des Bonifatiuswerkes“ eintragen, außerdem wurde ich „immerwährendes Mitglied“ im Pallottiner-Meßbund. Kenntnis von diesen Mitgliedschaften nahm ich im Spätsommer, als farbenprächtige Urkunden ins Haus flatterten – Mitgliedschaften, die, obwohl halbkriminell eingefädelt, unkündbar sind …

Derart gewappnet zog ich hinaus in die Welt, vergaß bald Kirchgang und Beichte und wandte mich den weichen Drogen zu. Eines Sonntags, es mag 1981 gewesen sein, kamen wir – ich hatte mit einem lieben Freund eine Mikropille geschluckt – auf den Gedanken, mal wieder zur Kirche zu gehen. Bei Ausflügen auf Pille steht ja immer die Frage im Raum: Wo geht man hin, wo ist es schön? Also haben wir uns, es war ein heißer Sommertag, für St. Mariä Himmelfahrt, unsern alten Dom, entschieden. Vor dem Tausendjährigen Rosenstock, dem Wahrzeichen unsres Bistums, überkam es mich dann: Wie wäre es, dachte ich – oder besser: dachte die Chemie in mir –, wenn man, zur höchsten Ehre Gottes und quasi hinter dem Rücken der Kirche, einen römisch-katholischen Propagandafilm herstellte? Einen Meßdienerreport, bunt und bescheuert: Ein Pfarrer, sportlich und gepflegt, tollt mit seinen Buben durch ein apostolisches Zauberland …

„Seitdem ich Glaubenssalbe nehme, glaube ich einfach an alles“: Szenenfoto aus Wenzel Storchs Meßdienerreport „Der Glanz dieser Tage“

Das hieß: Blut, Haß und Nächstenliebe! Nie gesehene Praktiken des Glaubens! Predigten und Verfolgungsjagden! Dazwischen, immer wieder, die religiösen Spiele blutjunger Ministranten. Und zum Happy End würde sich der Priester im Vollrausch die Hand abschneiden und sich aus den Knochen ein Mobile basteln! Obwohl ich von Film keine Ahnung hatte, setzte ich mich sofort hin und schrieb ein Drehbuch – oder was ich dafür hielt.

Exemplar aus der Mönchskäsesammlung des Verfassers

Um den richtigen Tonfall zu treffen und um mich atmosphärisch anzutörnen, klapperte ich die Pfarrbüchereien rund um Hildesheim ab, immer auf der Suche nach Fachliteratur. Denn das kleine Schatzkästlein, in dem ich meine Kindheits- und Jugenderinnerungen verwahre und in dem sich manches Kleinod findet – ein zerfleddertes Exemplar des „Kleinen Missionars“, ein paar abgegriffene Karten des „Sakramente-Quartetts“, Schundhefte aus der Pallottinerdruckerei, ramponierte Reste meiner Mönchskäsesammlung –, schien mir zum Quellenstudium nicht ausreichend. Immerhin schwebte mir ein Monumentalfilm über das Geheimnis des Glaubens vor, da mußte, wenn schon nicht alles, so doch wenigstens einiges stimmen.

Schon bald wurde ich beim Stöbern in den Leihbüchereien auf die Werke eines Würzburger Prälaten aufmerksam. Dieser Mann hatte prachtvolle Mädchen- und vor allem Bubengestalten geschaffen – Phantasiegestalten, wie ich sie mir für mein Vorhaben nur wünschen konnte – und in seiner Blütezeit ganze Bubenwelten halluziniert. Und das Beste: Die wertvollen Bücher lagen allesamt in Grabbelkisten, denn der für das katholische Büchereiwesen verantwortliche Borromäusverein wollte sie loswerden.

„Mit großer Epik Fühlung zu halten, gleichsam die Kräfte in ihr zu baden, ist geboten, wenn man selbst erzählerisch Ernstes erstrebt“, rät Thomas Mann in Die Entstehung des Doktor Faustus. „Ein schweres Kunstwerk bringt, wie etwa Schlacht, Seenot, Lebensgefahr, Gott am nächsten, indem es den frommen Aufblick nach Segen, Hilfe, Gnade, eine religiöse Seelenstimmung erzeugt.“ Von Schlacht, Seenot und Lebensgefahr wußte ich nichts, aber was ein „schweres Kunstwerk“ ist, das sollten mir die Dreharbeiten und Kopierwerksrechnungen bald zeigen.

Auch wenn die Kritik später anderer Meinung war: „Ein Machwerk, Schundprodukt und ´home movie´, aus der Unterhose gefilmt“, befand der katholische Woody-Allen-Experte Hans Gerhold nach der Premiere, und der Starkritiker des katholischen „film-dienst“ – ein Mann, der sich Messias nannte – wußte sich ebenfalls nicht zu lassen. Seine Diagnose: „Kirchenphobie“.

Dabei hatte ich mich bloß an die Direktiven gehalten, wie sie in Die 9. Seligkeit – Licht und Dunkel des Films niedergelegt sind. (In seiner Brandschrift aus dem Jahre 1962 ernennt Roman Herle, Filmsachverständiger der Wochenzeitung „Die Furche“, die Kinematographie zum „neuen, ewigen Licht“, seitdem galt der Film als „Fünfter Evangelist“.)

Außerdem hatte ich während der Dreharbeiten stets Fühlung gehalten, mich immer wieder in Die Leuchtende Straße oder Frechdachs lernt Anstand vertieft. In stillen Stunden versenkte ich mich auch in Peter legt die Latte höher – ein Werk, von dem noch zu reden sein wird, und das seinem Verfasser zahlreiche Auszeichnungen einbrachte. Wenn ich recht unterrichtet bin, sogar den Preis einer alten Standesorganisation, der Gilde deutscher Gliedvorzeiger (GdG).

Doch Spaß beiseite, und damit Vorhang auf! Vorhang auf für einen Meister seines Fachs, für einen der vielleicht besten Kenner der Gliedsteife, den die katholische Kinderliteratur je hatte.

Ein Sommernachtstraum

„Es ist keine Trennung möglich zwischen den Organen, die im Kopf angebracht sind, und denen, die zwischen den Beinen angebracht sind“, schreibt Peter Hacks in Die Schwärze der Welt im Eingang des Tunnels. „Man kann sowohl Eierstöcke im Hirn finden als Hirnmasse im Hodensack.“

Das beglaubigt Lutz wie kein zweiter (abgesehen vielleicht von Thomas Mann, dessen Eierstocknovelle Die Betrogene, das vorletzte Erzählwerk des großen Humoristen, Theodor W. Adorno zu einem langen Dankesbrief hinriß). Allein in den fünfziger Jahren produziert er ein Dutzend Kinderbücher, die sich alle, verschleiert oder explizit, um das Eine drehen. Streng nach Geschlechtern sortiert – mal eins für Mädchen, dann wieder zwei für Jungs, wobei besonders die Mädchenbücher durch Passagen von milchiger Schönheit gefallen.

Was um so irritierender ist, als auf dem „unberührten Klavier“ der „einweihende Silberton“ nie erklungen sein kann: Kaplan Lutz nähert sich dem 27. Jahr, als er sich in das Abenteuer des Schreibens stürzt und – gleichsam mit Eierschalen im Haar – an seinen ersten Sex-Ratgeber wagt.

„Der erste einweihende Silberton“: Pfarrhausidyll von Wenzel Storch (Wenzel Storch: Der Bulldozer Gottes. Ventil Verlag)

Will man großzügig sein, kann man Lutzens Œuvre dem poetischen Realismus zuordnen, trotz eines wildromantischen Einschlags, der sich der Sehnsucht nach Erlösung verdankt. „Gott schafft den Menschenleib neu“, deliriert er in einem seiner Bücher über die letzte Gnade: „Der Stoff jauchzt auf.“ Sowohl das Debüt als auch das ein Jahr später folgende „Schwesterbuch zur Leuchtenden Straße“ – Sex sells, wird sich der Verlag gesagt haben – sind in eine behutsam wogende, mild irrlichternde Fabel eingesponnen, angesiedelt in einem frivolen Traumland. Erzählt wird von der Diktatur der Fleisches.

Während er Das Heimliche Königreich – mit dem er den Mädchen das schenkt, „worum sie die Buben schon lange beneideten“ (Verlagswerbung) – in das zarte Gespinst eines Wintermärchens hüllt, kleidet er Die Leuchtende Straße in einen glühenden Sommernachtstraum. Auch wenn der Autor kein Shakespeare, kein Heine oder Goethe sein will, der ein solches Thema wohl melodischer („Norbert – so nennen wir einen reichen Wuschelkopf im besten Knabenalter …“) eingefädelt hätte – dem wunderlichen Seelsorger, der wie ein Barkeeper mit Liebeszaubersäften hantiert, gelingt auf Anhieb das, was Georg Lukács „ein leises Schaukeln zwischen Traum und Wirklichkeit“ nennt und was der Maler Moritz von Schwind gemeint haben könnte, als er von der „Vermischung des Feenhaften und Purzligen“ spricht

Vor uns liegt eine Sommerwiese, von Blüten übergossen … Hier, „zwischen kleinen grünen Käferchen und brummenden Hummeln“, schläft Norbert ein. Doch die Ruhe währt nicht lang. Frohes Lachen läßt Norbert aufschrecken, und als er sich zwischen „wogenden Halmspitzen“ die Augen reibt, gewahrt er drüben am Waldrand, dort, „wo ein Bächlein kullert und gluckst“, ein paar Jungen. „Zwischendrin, das Große, Schwarze? Tatsächlich, das ist ein Priester.“

Die Geschichte einer großen Freundschaft beginnt, und am Ende des Sommers wird Norbert mit gespreizten Beinen „zwischen zwei Lebensaltern“ stehen – wie René von Stangeler über dem Bachbett der Strudlhofstiege: „immer noch Knabe, längst schon Filou“. Bis dahin sind, zwischen Unterholz und Glockenturm, allerlei Abenteuer zu bestehen.

Autor: Wenzel Storch

Text: veröffentlicht in konkret 7/2010

FORTSETZUNG FOLGT:

Wenn es im Weinkeller „brodelt und gärt und rumort“ …