Die neue Mikrodramaturgie
„Inception“ ist kein Film über Träume, sondern über Stoppuhren. So wie die Iron Men nicht von Integrität handeln, sondern vom Wegducken in letzter Sekunde, und „Hellboy II“ sich nicht um Außenseiter, Inzest und Reifeprozesse dreht, sondern um glühende rotierende Zahnräder. Früher waren nur James Bond – Filme immer eine halbe Stunde zu lang, damit noch eine ausgewalzte Allmachtsphantasie über den Kampf um den Weltuntergang reinpasste, heute sind immer mehr Produktionen jenseits von Locarno um etwa hundert danebengehende Feuersalven zu öde. Und noch sehr viele Produktionen mit einem Budget oberhalb von 40 Millionen Dollar werden folgen, in denen die Aufmerksamkeit der Macher und des Publikums auf dem filmischen Äquivalent zu der Frage liegt, ob Heldin oder Held geschickt einem herunterfallenden Blumentopf ausweichen können. Sicherlich lässt sich das als Metapher für die immer noch akute Angst vor terroristischen Anschlägen in der englischsprachigen Welt lesen, aber die Metapher funktioniert nicht recht (Hellboy würde nie als zufälliger Passant von einem Blindgänger erwischt werden), und anders als offenkundigere Paranoiaphantasien wirken diese Werke auch bei uns. Nun ist dieses Zeug, in denen mit großer Wahrscheinlichkeit hervorragende Filme begraben liegen, die nie jemand zu Gesicht bekommen wird, offensiv für Teenager konzipiert. Und Teenagern wird das Leben wohl immer als Stakkato absurder Prüfungen, die über Leben und Tod entscheiden, erscheinen. Das alles hat hoffentlich nicht viel mit uns zu tun. Aber noch schauen und rezipieren wir mit, und werden von diesen Filmen mit genug Kunst, Schönheit und Klugheit, mit zu großen Namen, zu großen Themen und zu kleinen Momenten geködert, um nicht wegzusehen. Etwas verschiebt sich im allgemeinen Blick auf Geschichten, die Welt und Möglichkeiten.
Das Aufkommen der Mikrodramaturgie hat natürlich nicht zuletzt ökonomische und technische Gründe: „High concept“- Filme werden in eine ausufernde Verwertungskette hineingeboren, zu deren wichtigstem Standbein (trotz derzeitiger Umsatzeinbußen) Videospiele geworden sind (die mit ihren Gewinnen seit ein paar Jahren Hollywood Konkurrenz machen). Und pfiffige Dialoge lassen sich nun einmal nicht so gut nachspielen wie das Gerangel um die letzte Patrone. Die Videospiele entstehen an den gleichen Rechnern wie die Filmsequenzen und die digitale Nachbearbeitung aktueller Superheldencomics. Der ehrwürdige Nerdauflauf der Comic Convention in San Diego wird von „Blickpunkt Film“ gleich zur wichtigsten Filmmesse des Jahres erklärt, und niemand weiß mehr so genau, ob es bei diesem Event, das einmal vor allem dazu da war, vergriffene Hefte aufzustöbern und Zeichnern bei der Arbeit zuzuschauen, nun um Filme, Spiele oder Spielzeug (oder vielleicht doch noch um Comics) geht, und diese Unterscheidungen werden auch zunehmend nebensächlich.
Ein Filmemacher alter Schule würde fünfmal darüber nachdenken, komplizierte Kräne zu bauen, um theoretisch überflüssige Nahaufnahmen von herumrollenden und nicht detonierenden Granaten zu drehen, für die Programmierer in den Spezialeffektstudios ist es Tippen auf Tasten und auch nicht bizarrer als in wochenlanger Arbeit die Haarfarbe der Hauptdarsteller nachzubessern.
Und nicht zuletzt funktionieren die akribisch ausgearbeiteten Haarzieh – und Rippencheckszenen in „The Wrestler“ auf dem Display eines MP 3 Players wesentlich besser als die langsamen dunklen Kamerafahrten durch Randys Alltag und lassen den mobilen Zuschauer mit ihrer Betonung auf Reflexen und blitzschnellen Ausweichbewegungen weniger schnell in andere Passanten krachen, die mit ihren eigenen tragbaren Entertainmentmaschinen beschäftigt sind.
Es steckt eine Liebe zum Detail in dieser Bastelarbeit, wie sie sich auch im Slapstick, im Animations-, Tanz-, oder Experimentalfilm finden lässt, aber wenn die heutigen Actionfilme eine Stunde der wahren Empfindung feiern wollen, ist diese Empfindung Stress. Im Gunde nichts Neues für den Actionfilm.
Und dennoch wandelt sich hier eine tiefer gehende Vorstellung vom Leben und von lebenswichtigen Entscheidungen in der westlichen Kultur.
„n – tv“ hat nicht zum Spaß jahrelang unaufhörlich aktuelle Börsenkurse über den Bildschirm tickern lassen (und dies heruntergefahren, als die Zahl der Aktieninhaber unter den Zuschauern deutlich zurückging), Sport- und Castingshows verstopfen nicht zufällig das Fernsehprogramm, und die Wahl zum Bundespräsidenten wird nicht aus Langeweile von Medien zur Zitterpartie hochgejazzt, die ansonsten eher selten über das mühselige Prozedere des Bundestags berichten, und schon gar nicht über Christian Wulff.
Wir rutschen unaufhaltsam von den alten Erzählungen über selbstbestimmte heroische Individuen hinüber in neue über clever gehetzte Einzelkämpfer mit den richtigen skills. Darunter liegt ein Eingeständnis der eigenen Ohnmacht angesichts von Prozessen, die individuell kaum noch begriffen, geschweige denn mitgestaltet werden können, und eine tiefe und gefährliche Resignation, die das nackte Überleben (und als das fungiert, so obszön das erscheinen mag, auch das Weiterkommen in der Castingshow) als größtmöglichen Sieg mit allem verfügbaren Pomp feiert. Twitter um deinen Platz an der Sonne, bevor du bei der nächsten Naturkatastrophe, dem nächsten Krieg oder der nächsten Loveparade zur zum Untergang verurteilten Herde im Gatter gehörst.
Dass das Glück mit dem Guten ist, ist natürlich eine uralte Vorstellung. In Zeiten, als das Leben auch in unseren Breiten tatsächlich Tag für Tag davon abhing, nicht im falschen Moment einen Schnupfen zu kriegen, galt als vom Glück begünstigt, wer das Ausfallen seiner Zähne miterleben durfte. Die frühen Mythologien wimmeln von Pharaonen, Halbgöttern und schließlich Propheten, deren Heldentaten das Äquivalent dazu sind, im Lotto zu gewinnen. Aber überall dort, wo sich reflektiertes Bewusstsein durchsetzte, entstand eine neue Vorstellung von der Gestaltbarkeit der Welt – passiver im Osten der taoistischen Heiterkeit und des buddhistischen Gleichmuts, äußerst aktiv im Westen mit der antiken Vorstellung des Individuums und dem nachfolgenden christlichen Gesinnungsmenschen, massiv vorbereitet durch die selbstbewusst von Gott abfallenden Könige des alten Testaments. Unsere Erzählungen, und es lässt sich nicht häufig genug betonen, dass sich die verbindlichen Erzählungen einer Kultur in ausgewiesenen Fiktionen noch am Wenigsten spiegeln, sind nach wie vor geprägt von den damals entwickelten dramaturgischen Modellen. Obwohl oder weil zur antiken Zeit ein Gang durch den falschen Wald tatsächlich den Tod bedeuten konnte, fehlen in diesen Modellen die plötzlich auf Pfützen ausrutschenden Schurken oder die durch eine kurze Unachtsamkeit untergehenden Imperien völlig, die unsere Medien bevölkern. Philosophie, Religion und Politik beschäftigten sich nicht mit der Fähigkeit, sich im richtigen Moment zu ducken, und in der „Ilias“ fehlen die geschickt angetäuschten Schwertattacken aus „Troja“. Dafür gab es Spiel und Sport.
Der zugespitzte Moment am Scheideweg, der Kairos, in dem sich alles zum Guten wenden oder in die Katastrophe führen kann, ist eine erzählerische Metapher. Noch bei Sergio Leone werden wir nicht deswegen mit auf Minuten gedehnten Sekunden traktiert, weil der Showdown tatsächlich dadurch entschieden würde, ob Clint Eastwood schneller zieht als Lee Van Cleef oder Henry Fonda wirklich von der Sonne geblendet wird. Die Entscheidung des Fatums wird lediglich bis an die Grenze der Erträglichkeit mit aller Schwere ausgekostet, Entscheidungen gibt es in der Welt des Italo–Westerns, der die alten Erzählungen gegen den Strich bürsten will, genau so wenig wie in dem angeblich darin gespiegelten japanischen No–Theater (und wenn, liegen sie darin, auf Elli Wallach zu schießen oder doch nur auf den schicksalhaften Strick um seinen Hals).
Die Ballette des asiatischen Martial Arts Films, denen wir die neue Meisterschaft der westlichen Filmemacher beim Auskosten der bewältigten Spannungssekunden verdanken, huldigen einem diametral entgegen gesetzten Prinzip. Die schrulligen alten Lehrmeister verhöhnen die angehenden Helden nicht (nur) zu unserer Unterhaltung, sondern um sie egofreie Achtsamkeit, Flexibilität und angemessenes Handeln im Moment zu lehren. Deswegen erklingen Gebetsglöckchen, bevor Jackie Chan fünf waffenstarrende Monster mit einer Tüte Mehl bezwingt, deswegen friert das Bild vor Stephen Chows Wirbelattacken kurz ein ( und bereits japanische Videospiele sind in den höheren Leveln nicht mehr mit Einzelentscheidungen zu bewältigen). Und deswegen hat die Adaption dieser Ästhetik in „The Matrix“ so verheerend stilbildend überzeugt: das Durchschauen der Scheinwelt der zehntausend Dinge macht den guten Kämpfer aus, seitdem asiatische Wandermönche zum ersten Mal zurückschlugen, das weiß jeder bessere Karatelehrer. In diesen Denkschulen existieren nach westlichem Verständnis weder Subjekt noch Objekt, Indidividuum oder machbare Welt. Entsprechend kann der Höhepunkt einer erzählten Geschichte nicht das ausufernde Streitgespräch über Weltanschauungen und Wirklichkeitsbewältigung sein, das uns als Nachlass des antiken Theaters kulturell in den Knochen sitzt. Aber die Kulturen nähern sich an, im Guten wie im Bösen, und vielleicht wachsen im Moment bereits Teenager heran, die authentisch in einer neuen Gemütslage leben, in der nicht mehr Showdowns, ob mit Waffen oder Worten, Ausdruck von Krisenbewältigung sind, sondern Tanz, Poesie und nervtötende Videospiele. Im Moment aber scheinen die Filme der amerikanischen Majors an überreizten Mischformen zu arbeiten, die nichts Besseres zu verkünden haben, als die alte Prädestinationslehre mit noch mehr Stress. Wenn im alten Western bis hin zu „Star Wars“ der Gute nicht danebenschoss, die Kugelhagel des übermächtigen Feindes aber ins Leere gingen, bildeten Rechtschaffenheit, Können und die unsichtbare Hand Gottes und des Autors eine untrennbare Einheit. Wenn Hellboy, um ihn hier stellvertretend für alle seine Kollegen zu nehmen, so lange gegen alle verfügbaren Schränke geprügelt werden muss, bis er zum heiligen Berserker wird und dann mit viel Schweiß nicht mit den Hörnern im falschen Zahnrad hängen bleibt, ist dieser alte Pakt nicht aufgekündigt, aber die Bedingungen haben sich verschärft: Hellboy braucht mehr Wut und Überlebenswillen als John Waynes klassische Leinwandhelden, um genau wie er persönliche Rettung, Weltrettung und Triumph in einem Aufwasch genießen zu können, er muss sich ungleich härter demütigen lassen und anstrengen. Da wären wir wieder. Es wäre hübsch, wie immer, wenn sich das als Ideologie abtun ließe, die eiskalte Strippenzieher den gebeutelten postpostmodernen Menschen systematisch als Disziplinierungsmaßnahme einflößen wollten. Aber dieser nervös gepresste Atem zieht sich wohl tatsächlich durch unsere Kultur. Und zur alles andere als beruhigenden Prämisse der Erzählungen wird, dass der bizarre Stress an sich unvermeidlich ist, nicht verhindert und nicht verhandelt werden kann.
Besonders deprimierend wird diese Sicht in der konkurrenzlos brillantesten Spannungssequenz der letzten Jahre, in dem Kellerlokal von „Inglourious Basterds“. Hier wird tatsächlich über Leben und Tod entschieden, wenn beim Bestellen von drei Bier aufgrund fehlenden Detailwissens die falschen Finger gehoben werden. Dass der gefälschte Deutsche nach jeder alltäglichen Logik zehn Minuten früher oder gar nicht gnadenlos enttarnt sein müsste, stört nicht nur den manischen Trivia–Streber Tarantino wenig (der vermutlich tatsächlich davon überzeugt ist, dass es ihm eines Tages das Leben retten wird, zu wissen, in welchem Jahr die „Beverly Hills 90210“ – Barbies auf den Markt kamen). Sondern uns noch weniger, die wir längst davon überzeugt sind, in einer Welt zu leben, in der zwar vielleicht die Guten und die coolen Bösen so oder so bzw. so davonkommen werden (wie Raine oder Landa), die Charakterrollen und Statisten aber (und wer kennt schon noch den Unterschied) mit gespanntester Aufmerksamkeit Fehler vermeiden und Informationen sammeln müssen. Wir wissen, die Welt ist nicht so. Aber würden wir es im Weinlokal noch wissen?
Der Prozess der Durchdringung von Ost und West hat noch nicht einmal richtig begonnen. Und die Verfeinerung des Ausweichens und Zuschlagens, des Informationssammelns und alerten Knöpfchendrückens lässt sich nicht beliebig steigern und löst nicht einmal die Probleme der verästelten Drehbücher. Irgendwann werden unsere Helden tanzen, revoltieren oder Blumen pflücken. Und bis dahin müssen wir eben durchhalten und daran denken, dass die neue Mikrodramaturgie im Guten wie im Bösen nichts mit dem Leben, seinen Prozessen und seinen Entscheidungen, seinen Wundern und seinen Zahnrädern zu tun hat. Und nur in Ausnahmefällen mit gelungenen Filmen. Oder darauf hoffen, dass uns der alte Jackie Chan noch einmal rettet.
Text: Florian Schwebel
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