Das Festival stürmt aufs Finale zu
Locarno, 13. August 2010:
Gerüchte schwirren, ganz klar, irgendein Schlaukopf weiß auf jedem Festival schon vor der Jury, wer den Hauptpreis bekommt. Aber es gibt auch Gerüchte anderer Art. Das Lustigste: Der in Berlin lebende Schauspieler Sebastian Blomberg, einer der Hauptdarsteller des deutschen Thrillers „Das letzte Schweigen“, der am Freitagabend auf der Piazza Grande laufen soll (wenn der Dauerregen denn doch noch mal endet) ist angeblich von zuhause per Fuß hierher unterwegs. Es heißt, er habe sich vorgenommen, pro Tag einhundert Kilometer zurückzulegen. Ob’s stimmt oder nicht, ist inzwischen egal: Als Werbegag funktioniert’s. Blomberg und der Film sind talk of the town.
Ebenfalls im Gespräch: „Karamay“, der einzige Dokumentarfilm im Internationalen Wettbewerb von Locarno. Der im Jahr 2007 begonnene Film, der schon allein mit seiner fast sechs Stunden Aufführungsdauer beeindruckt, blickt auf eine Feuerkatastrophe in der westchinesischen Provinzstadt Karamay im Dezember 1994. In einem Theater, der so genannten Freundschaftshalle, waren damals mehr als dreihundert Menschen ums Leben gekommen, darunter 288 Kinder zwischen 6 und 14 Jahren. Bis heute darf in China nicht öffentlich um die Opfer getrauert werden. Einer der Gründe: Passiert ist das Unglück während einer Gala für hohe Parteifunktionäre. Sie entkamen dem Horror alle unbeschadet. Zeugen sagen, dass sie als erste das Gebäude verlassen durften, während die Kinder und ihre Lehrer zunächst an der Flucht gehindert wurden.
Wesentlicher Bestandteil des ruhigen, in seiner Stille an ein großes Wandgemälde erinnernden Films sind ausführliche Aussagen von Eltern und Videomaterial aus dem Jahr 1994. Die Interviewten bringen immer wieder ihre Angst zum Ausdruck, sich um Kopf und Kragen zu reden, aufgrund ihrer Mitwirkung an der Dokumentation von den Behörden schikaniert zu werden. In Locarno herrscht allgemeines Staunen darüber, dass Regisseur Xu Xin den Film überhaupt realisieren und dann auch noch ins Ausland bringen konnte.
Emotional sehr bewegt, ist es natürlich bei einer Dokumentation mit einem derartigen Thema äußerst schwierig, die übliche analysierende Haltung des Kritikers einzunehmen. Es sei dennoch gewagt: So erschütternd viele der Aussagen sind – so groß das Leid – die Dokumentation macht es einem als Betrachter allein wegen ihrer Länge sehr schwer. Selbstverständlich ist es für jede Mutter, für jeden Vater ungeheuerlich, ein Kind zu verlieren. Da ist das Bemühen des Regisseurs, jedem den gebührenden Raum zu geben, nur zu verständlich. Doch dem Publikum bringt die Fülle keinen Erkenntnisgewinn, auch keine größere emotionale Anteilnahme. Die vielen Tränen, die auf der Leinwand vergossen werden, rütteln auf, ja. Aber das Eigentliche rutscht dadurch ins Abseits: die Kritik an der Haltung der staatlichen Führung, deren Unmenschlichkeit sich 1994 offenbarte, und die sich nach wie vor darin äußerst, dass sie den Opfern und ihren Angehörigen durch das Verschweigen und Vertuschen die Würde nimmt.
Hier auf dem Festival kam der Film ausgerechnet an jenem Tag, da die schweizerischen Zeitungen voll sind mit Jubelberichten über das steigende Engagement der chinesischen Wirtschaftsführung, sich im Land der Eidgenossen niederzulassen. Das verstärkt die Dringlichkeit der Frage, ob die sogenannte freie westliche Welt, die China ja schon anlässlich der Olympiade so etwas wie eine Absolution erteilt hat, nicht doch endlich eine andere Haltung zu dem Riesenreich einnehmen sollte.
Das Thema der Dokumentation und die dadurch angeregten politischen Diskussionen lassen viele hier vermuten, dass „Karamay“ – filmische Qualität hin oder her – von der Jury in jedem Fall mit einem Preis bedacht werden wird. Wenn es so kommt, ist zu hoffen, dass dies bei dieser Politikerin und jenem Politiker als Signal für ein Nachdenken über die Haltung zu China verstanden wird. Allerdings, seien wir ehrlich: Das ist wohl ein naiver Traum. Gerade in Locarno hat man ja schon vor Jahren die Ohnmacht der Filmkunst gegenüber der Politik zu spüren bekommen: Nach dem berüchtigten G8-Gipfel in Genua, bei dem unzählige Menschen in Italien von Polizei, Militär und Justiz drangsaliert worden waren, liefen sofort Filme mit Zeugnissen des Grauens in Locarno. Bewirkt haben sie nichts. Dennoch haben diese Filme, wie jetzt auch „Karamay“, ihre Berechtigung als Mahnung. Sie sorgen dafür – diese Hoffnung ist vielleicht berechtigt und nicht allzu naiv –, dass das Unrecht in dieser Welt wenigstens benannt wird.
Text: Peter Claus
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