In Locarno zählt nur eins: die Lust am Kino

Ninotchka (Ernst Lubitsch, USA 1939)

Locarno, 11. August 2010:

Die Spekulationen um die hier in Locarno am Samstag zu vergebenden Leoparden und die anderen Preise schießen ins Kraut. Das ist ziemlich unsinnig, vor allem, weil noch x Filme ausstehen. Üben wir uns in Geduld.

Viel Geduld braucht hier vor Ort, wer die Lubitsch-Retrospektive besucht. Der Zuspruch überbietet alle Erwartungen. Mindestens eineinhalb Stunden vor Filmbeginn muss (nicht sollte) man in der Schlange stehen, um noch einen halbwegs guten Platz zu ergattern. Es zeigt sich deutlich, dass Olivier Père gut entschieden hat, in Sachen Retro zum Ursprung des Festivals zurückzukehren und eine filmhistorisch spannende Schau zu präsentieren.

www.lubitsch.com

Tatsächlich ist Staunen angesagt, etwa darüber, wie modern schon die in den 1920-er Jahren entstandenen Stummfilme von Ernst Lubitsch wirken. Und erst Recht dann seine Tonfilme, nahezu durchweg komödiantische Perlen. Montage, Bildarrangements, Schauspielerführung – alles hat er der jeweiligen Story und deren Dreh- und Angelpunkten untergeordnet. Stumme Blicke und das Ungesagte sind meist das Entscheidende. Und dann die erotische Delikatesse. Es ist Schwärmen angesagt. Man möchte sofort das nächstgelegene DVD-Geschäft stürmen und sich seine persönliche Lubitsch-Sammlung zulegen.

Im Hauptwettbewerb hat inzwischen China gepunktet. Regisseur Li Hongqi erzählt in „Han jia“ (Winter Vacation) eine einfache Geschichte von jungen Leuten an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Ihre Gespräche drehen sich um Liebe, Sex und all die anderen noch unerforschten und von Geheimnissen umgebenen Dingen, von denen sie träumen, und vor denen sie auch Angst haben. Spannend an dem Film ist, wie hier die gegenwärtigen Moralvorstellungen des heutigen Chinas gespiegelt werden, wie, sehr vorsichtig, Kritik an den von den Herrschenden diktierten Lebensregeln geübt wird. Der Film erinnert an die Kinematographien des sogenannten Ostblocks zu Mauerzeiten. Wie damals etwa in Spielfilmen aus der DDR oder aus Polen, Tschechien, Ungarn, so wird auch hier sehr viel zwischen den Dialogen und zwischen den Bildern erzählt. Das ist sehr beeindruckend – und auch bedrückend. Wieder steht die Frage im Raum, warum eine so restriktive Regierung, wie es die in China offenkundig ist, immer wieder von den politischen Vertretern der westlichen Welt hofiert wird. Die Antwort liegt auf der Hand: Es gilt, die Wirtschaftsmacht China zum Freund zu haben. Die Zurückhaltung, mit der genau dies in diesem Film ausgedrückt wird, ohne, dass es benannt wird, macht „Han jia“ – spekulieren wir doch mal ein bisschen – ebenfalls zu einem Leoparden-Kandidat.

Han jia (Regie: Li Hongqi, China 2010, © Festival del film Locarno 2010)

Kaum Chancen auf eine Auszeichnung hat hingegen der französische Wettbewerbflop „Bas-Fonds“ von Regisseurin Isild Le Besco. Geschwätzig und in der Darstellung von Gewalt und Sexualität oberflächlich-spekulativ zeigt auch sie Menschen zwischen Kindheit und Erwachsensein. Hier sind es drei Mädchen, die sich saufend mit ungezügelter Sexualität allem Durchschnittlichen verweigern. Das könnte spannend sein, wenn es in die Tiefe ginge. Doch das bleibt aus. Als Zuschauer fühlt man sich durchweg unangenehm in die Rolle eines Voyeurs gedrängt, ohne dass einem auch nur ein Angebot zum Nachdenken über das Gesehene gemacht würde. Nicht wenige verließen den Film, bevor er zu Ende war. Verständlicherweise.

Böse Aussicht: Mindestens der Mittwoch und Donnerstag sollen hier am Lago Maggiore verregnet werden. Für das Festival ist das wirklich schade, denn dann fallen die Piazza-Aufführungen am Abend tatsächlich ins Wasser. Wiewohl: Noch gut in Erinnerung sind die Bilder vom Vorjahr, da die Filmfans bei wirklich strömendem Regen aushielten. In Locarno zählt eben nur eins: die Lust am Kino.

Ninotchka (Ernst Lubitsch, USA 1939)