David Lynch gehörte in den 1980er Jahren zu den wenigen Regisseuren, die nach dem Scheitern von New Hollywood eine sehr eigenwillige Filmsprache in die Traumfabrik retten konnten: ein Autor, dessen Karriere vom Kampf des Künstlers mit dem Apparat gekennzeichnet war und an Höhen und Tiefen reicher war als die der meisten Filmemacher seiner Generation.
Frühen Ruhm brachte ihm der unter den Bedingungen des Underground Movie entstandene Eraserhead (1976) ein, ein düsteres, verschlüsseltes, albtraumhaftes und zugleich tief komisches Werk, das ebenso gut in die Kultvorstellung der Midnight Movies wie in die Kunstgalerien passte. Mit Der Elefantenmensch (1980) bewies Lynch, dass er auch mit den Gegebenheiten der professionellen und arbeitsteiligen Filmindustrie umgehen und Narrationsregeln befolgen konnte, ohne seinen Stilwillen zu verlieren. Aber dann entstand mit der Verfilmung von Frank Herberts Dune – Der Wüstenplanet (1984) ein wahres Fiasko, das Dokument eines verlorenen Kampfes, eine der schönsten Filmruinen der Kinogeschichte. Jemand wie Lynch konnte das mittlere Kino der Qualität revolutionieren, nicht aber das Fantasy-Blockbuster-Kino.
Postmodernes Kino
Eine Art Friedensangebot zwischen der Produktion (De Laurentiis) und dem Autor war die Möglichkeit, einen „kleinen“ Thriller zu drehen, und so entstand Blue Velvet (1986), ein verstörender Blick auf die Nachtseite der amerikanischen Provinz und eine Reise ins Unbewusste mit ganz und gar neuen Mitteln. Blue Velvet war wie ein Aufbruchsignal für ein Kino, das man später „postmodern“ nannte und das sich vom Diktat der klassischen Script-Logik zu befreien begann. Und mit Blue Velvet begann auch die Arbeit der internationalen Lynch-Dechiffrierungsverschwörung; an keinem anderen Regisseur arbeiteten sich die Fans, die Kritiker, die Theoretiker und Leute, die von alledem ein bisschen sind, so ab wie an den geheimnisvollen, anspielungsreichen, irritierenden, traumhaften, mehrfach übermalten, ironischen, gewaltsamen und nicht zuletzt ungeheuer schönen Bildern von David Lynch.
Mit Wild At Heart (1990) drehte Lynch eine furiose, aber gegenüber dem streng komponierten Blue Velvet fast verspielte und zugleich in seinen Gewaltszenen sogar als obszön empfundene Variation seiner Motive, die das gerade erst entstandene Lager der Lynch-Aficionados auch schon wieder spaltete. Erneut drohte Lynch wieder vom Zentrum an die Peripherie der Bilderfabrikation gedrängt zu werden, zumal er sich zwischen den Filmprojekten eher für den Kunst- als für den Kinodiskurs interessierte. Zwischen den Filmen organisierte er Ausstellungen seiner Gemälde, seiner Fotografien und seiner Möbelkreationen, drehte bizarre Musikclips wie „Industrial Symphonies“ und verweigerte sich, gewiss gestützt auf seinen mittlerweile unbestrittenen „Kult-Status“ zwischen Pop und Kunst und Hollywood, zwischen Trash- und High-Culture, zwischen Europa und den USA, den üblichen Traumfabrikritualen.
Das nächste große Comeback war die gemeinsam mit Mark Frost konzipierte Fernsehserie „Twin Peaks“ (1989), ein „Mystery-Crime“ avant la lettre und eine lange, mäandernde Reise in den sozialen und sexuellen Untergrund einer kleinen Stadt im Norden der USA. Satire, Mysterienspiel, Krimi und das Spiel mit den Lynchismen machte eine „Gemeinde“ süchtig; „Twin Peaks“ wurde zu einem der größten Fernseh-Kulte der frühen Neunzigerjahre. Noch einmal gelang das Kunststück, eine ganz und gar eigensinnige, provokative und nach wie vor geheimnisvolle Bildwelt auf dem Mainstream-Markt durchzusetzen. Lynch musste nach Abschluss der Serie noch einmal an diesen magischen Ort zurückkehren, und mit dem Kinofilm Twin Peaks: Fire Walk With Me (1992) drehte er einen Nachklang, der beide Zuschauergruppen ratlos machte, jene, die sich eine Fortsetzung, und jene, die sich eine Erklärung für die TV-Serie gewünscht hatten.
Zumindest kommerziell ausgesprochen glücklose weitere Fernsehprojekte wie „On the Air“ folgten, Werbeclips für Yves Saint Laurent und Calvin Klein, gescheiterte Projekte wie eine Verfilmung von Franz Kafkas „Verwandlung“. Der Film Lost Highway (1996) entstand dann schon unter ganz anderen Produktionsbedingungen. Gedreht wurde in Lynchs eigenem Haus, für die bescheidene Budgetierung sorgten die europäischen Partner von Canal plus. In den USA reichte der Film nicht mehr über den Kreis der Arthouses hinaus, und während sich die Dechiffrierungskommandos wieder auf die endlos geflochtene Geschichte vom Mörder, der sich in einen anderen verwandelt, und auf eine Geschichte, die die Unterseite einer anderen Geschichte ist, stürzten, blieb die Begeisterung des Kults ebenso aus wie die Anerkennung durch das „offizielle“ Hollywood. In den Film- und Philosophieseminaren Europas freilich war Lost Highway Anlass für wahrhaft unendliche Bearbeitung.
In einer Geste, der man durchaus Ironie unterstellen könnte, drehte David Lynch 1999 daraufhin den Film, den niemand von ihm erwartet hätte, und nannte ihn The Straight Story (deutsch: Eine einfache Geschichte). Eine sehr menschliche, scheinbar einfache Geschichte von einem alten Mann (namens Straight), der vor seinem Tod seinen Bruder noch einmal sehen möchte, um sich nach langem Streit mit ihm zu versöhnen, und der dafür mit einem umgebauten Rasenmäher durch Amerika reist (durch ein Amerika, an dem an allen Ecken und Enden die Lynchsche Unterwelt aufzubrechen droht). Hatte Lynch seinen Frieden mit Amerika und seinen straight stories gemacht? Mit Mulholland Drive (2001) kehrte der Regisseur zu seiner „irrealen“ verspiegelten und verflochtenen Erzählweise zurück; wieder erzählt er die Geschichte eines Menschen – diesmal ist es eine junge Schauspielerin, die nach Hollywood kommt -, der über die Grenzen zwischen verschiedenen Geschichten und verschiedenen Identitäten gerät. Mulholland Drive versöhnte die Aficionados des Lynchismus, durch die düster-schöne Stimmung, den Sex Appeal, die Musik und die Musikalität, den Reigen der Motive und Obsessionen dieses Künstlers. Und noch einmal schaffte es David Lynch, das Kino mit seiner Kunst zu erobern. Aber in die veränderte Filmlandschaft passte ein Film wie Mulholland Drive nicht mehr als Signal ästhetischer Revolte, sondern nur noch als respektierter Klassiker der Filmmoderne. Nur wenige Kritiker bemerkten, dass David Lynch dabei nicht nur eine Perfektion seiner Mittel erreicht, sondern auch im eigenen Werk einen großen Schritt nach vorn gewagt hatte. Konnte man die Filme von David Lynch bis Lost Highway als verschlüsselte, magische Autobiografien (und mystische, satirische Amerika-Bilder) lesen, so wendet er sich in den Film-im-Film-Filmen mit den weiblichen Hauptfiguren vor allem dem eigenen Medium und der eigenen Kompositionslehre zu. Sex, Gewalt, Schrecken, Schock, Albtraum, Wunder, der Tod und etwas, was jenseits von ihm geschieht, umgekehrte Geburten, bizarre Gestalten aus Märchen, die aus den Fugen geraten sind, die Lynch-Ikonografie der Hotelflure und Flackerlichte, seltsamen Bühnen hinter schweren Vorhängen, die Ästhetik der Verlangsamung, das industrielle Rauschen aus einer fremden Außenwelt, die schrägen Musiknummern dazwischen, die Übertragung von Ähnlichkeiten in Fremdheiten, die Traum-im-Traum-Sequenzen, die Transzendenz-Bilder, die absurden Americana, David Lynch-regulars, die Konstruktion der „Handlung“ in autonomen Zellen, die Wiederkehr von Zeichen und Farben, selbst die Bewegung der Protagonisten am Leitfaden von Angst und Begehren – all das gibt es auch in David Lynchs neueren Arbeiten. Aber es ist mit einem solchen Formbewusstsein und mit solch innerer Harmonie bearbeitet, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, die größte denkbare Weltpanik sei da mit der größten möglichen Ich-Gelassenheit verbunden.
David Lynchs Hinwendung zur „transzendentalen Meditation“ und zur „Foundation for Consciousness-Based Education and World Peace“ hat seine Filme offensichtlich an der Oberfläche nicht friedlicher und harmonischer gemacht. Würde man dies innerhalb eines Lynch-Filmes sehen, so wäre ohnehin nicht zu klären, wie viel Ironie und Brechung es enthält. Und doch ist das System Lynch offener geworden. Und die Sehnsucht nach dem harmonischen Maß so überwältigend wie die Zärtlichkeit gegenüber dem einsam leidenden Menschen.
Die Produktionsbedingungen für Lynchs Filme entfernen sich zunehmend von denen der Traumfabrik und nähern sich denen des solitären Künstlers an. Inland Empire hat er selber finanziert, mit ein wenig Hilfe von Canal plus. Lynchs Frau Mary Sweeney übernahm die Produktion, und über das Budget herrscht Stillschweigen, vielleicht weil es im traditionellen Sinn ganz einfach nicht existierte. Die Stars werden ganz sicher nicht die Gagen erhalten haben, wie sie sie aus ärmeren Hollywoodproduktionen gewöhnt sind, und ihren Marktwert werden sie nicht unbedingt erhöhen; sie arbeiten aus anderen Motiven mit David Lynch. In die Kinos der USA kam der Film nicht mehr über einen normalen Verleih; der Regisseur musste die Distribution und die Werbung (vorzugsweise über das Internet) selbst übernehmen. Ein Armutszeugnis für die amerikanische Filmkultur, schimpften Kritiker, die den Film mehrheitlich mit Sympathie erwarteten. Aber vielleicht eine vollkommen konsequente Entwicklung. Lynchs „Bewerbung“ für den Oscar war eine entsprechende Aktion zwischen Poesie und Protest: Er führte eine Kuh auf dem Sunset Boulevard spazieren, um darauf aufmerksam zu machen, dass Laura Dern den Academy Award verdient hätte. Dort aber, wohin David Lynch und Laura Dern in Inland Empire hingelangt sind, gibt es keine Oscars mehr.
Inland Empire ist David Lynchs erster Film, der auf Digital- Video-Material gedreht wurde, und darin überträgt sich eine Direktheit, eine bizarre Aktualität, so als wäre der Traum nicht mehr auf Zelluloid aufgehoben, sondern wäre gegenwärtig und vorläufig. Das Kunstwerk, das seine technische Reproduktion bedenkt. Die schnellere und billigere Arbeitsweise nun verleitet möglicherweise auch dazu, Quantitäten zu erzeugen, die den routinierten Kinozuschauer an den Rand seiner Aufmerksamkeitsspanne bringen. Drei Stunden dauert Inland Empire, auch wahrnehmungspsychologisch eine reine „Unzeit“. Dabei entstand vielleicht so etwas wie eine Digest-Zusammenfassung des Lynchismus, womöglich auch der erste „Lynch-Film“ des David Lynch. Wie so oft bei diesem Autor mag man den Eindruck haben, es handele sich zugleich um einen Abschluss und einen Neuanfang.
Inland Empire und die Kuh auf dem Sunset Boulevard
Lynch hat das Drehen auf Digital Video für Beiträge zu seiner Webseite erprobt und sich in das Material, wie er selber sagt, „verliebt“. Er preist die neue „Freiheit“, die man beim Drehen und bei der Postproduction damit gewinnt. „Für mich gibt es keinen Weg zurück zum Film“, sagt der Autor, was ästhetische Entscheidung und ökonomischen Zwang miteinander verbinden mag. DV wird zum Experimentiermaterial für den audiovisuellen Künstler, der gleichsam aus dem Kopf arbeitet und keine Zugeständnisse mehr machen und keine zermürbenden Verhandlungen mit der Produktionsseite mehr führen will. Was nun entsteht, ist so reiner Lynch wie bei einem Maler, den man mit seinen Farben und seiner Leinwand arbeiten lässt, ohne ihm dreinzureden.
Während in den früheren Lynch-Filmen ein offenes System aus seltsam geschlossenen Bildern entstand (jede Einstellung war gleichsam auch ein Gemälde), entsteht es nun zu einem Teil aus offenen, in gewisser Weise unfertigen Bildern. Tatsächlich spielten diesmal auch Vor-Arbeiten, einzelne Installationen, Fotoprojekte (einige davon in der Retrospektive der Fondation Cartier in Paris ausgestellt) sowie autonome Filme (Darkened Room, Rabbits) eine wichtigere Rolle für einen Prozess, der nicht zuletzt auch Collage ist und schon damit auch Sammlung und Rückschau. Die „Dialoge“ von Rabbits etwa, die im ursprünglichen Film nichts als konkrete Poesie waren, wundersame Leere, bekommen in Inland Empire nun eine neue Funktion: Sie „bedeuten“, sie liefern Muster der Komposition und, einmal mehr, des Dechiffrierungsspiels. Auch das Internet spielt in der Kunstkonzeption des David Lynch eine andere Rolle als bei den Medienmultiplikationen des traditionellen Verwertungsprozesses audiovisueller Produkte. Hier sind es Arbeitsskizzen, Entwürfe, Teillieferungen, die die Lynch-Gemeinde abrufen und in die sie hineinwirken kann. Die Anfänge von Inland Empire bestehen aus Kurzfilmen, die Lynch für das Netz oder in ihm realisiert hat. Der Film Inland Empire ist das Zentrum eines größer angelegten Kunstprojektes, das wiederum eine Zusammenfassung des großen Kunstprojektes David Lynch ist.
Damit verliert Lynch freilich ein wenig von dem, was ihn in seiner Karriere bis dahin so einzigartig machte, nämlich die Fähigkeit, die Freiheit seiner Kunst in die Traumfabrik selber zu tragen und mit „Twin Peaks“ sogar in die Fernsehgemeinde der Primetime. Nun, längst im Rang eines Klassikers, kann er abseits der industriellen Bahnen arbeiten, sehr frei, aber auch ein wenig isoliert. Seine neue Arbeitsweise ist ein Medium der „huge exploration“ (Lynch), und nicht zuletzt erlaubt DV ein anderes Arbeiten mit den Schauspielern. Sie spielen gewissermaßen nicht mehr zum „Cut“ oder zum Ende des Filmmaterials, sondern bis zur eigenen Erschöpfung. Eine Art Anti-Image-Arbeit ist da zu beobachten. Die Performance ist zweifellos flüssiger, insbesondere Laura Dern scheint sich in die Situation zu steigern „bis zum Exzess“, wie man so sagt. Dern „stellt“ nicht „dar“, sie exploriert. Man kann sich vorstellen, wie groß Respekt und Vertrauen zwischen Regie und Darstellung sein müssen, und man kann sich vorstellen, welche Rolle das leichte und bewegliche Material dabei spielt.
Inland Empire beschreibt einen Zustand gewiss; zugleich aber ist es auch ein ganz konkreter Ort, eine düstere Gegend an der Grenze zur Wüste in der östlichen Nähe von Los Angeles. Die glanzvolle Seite der Stadt, die in Mulholland Drive noch eine so bedeutende Rolle spielte, kommt hier nicht vor. Wieder geht es um zwei Frauen, deren Wege und Erscheinungen ineinander verwoben sind, und wieder ist eine von ihnen ein blonder Filmstar. Allerdings diesmal nicht am Anfang, sondern wohl auf einer Linie zwischen Höhepunkt und Ende der Karriere. Eine Art Prolog beschreibt einen Akt des Tausches von Liebe und Geld, Mann und Frau in einem Hotel ohne Identität; die Gesichter gleichsam digital ausradiert. Dann erst bekommt, nachdem der Mann sie verlassen hat, die Frau ein Gesicht: eine dunkelhaarige junge Frau in einem einsamen, alten Hotelzimmer. Sie weint, während im Fernsehen eine typische Comedy-Show läuft, das Bildschirmlicht spiegelt sich in ihren Augen. Eine Couch (wiederum dem „imaginären“ Fernsehen zugewandt, wie man sie von Al Bundy und den Seinen kennt) im Wohnzimmer, dahinter die Küche und das Bügelbrett. Sätze ohne Bedeutung, Tür auf und zu, dazu Gelächter vom Band. Alles wie gewohnt. Nur dass die Menschen in diesem Ambiente riesige Kaninchenköpfe tragen.
Und da ist diese ebenso berühmte wie distinguierte Schauspielerin, Nikki Grace, in den Dreißigern vielleicht; sie erhält in ihrer schlossähnlichen Villa den Besuch einer rätselhaften neuen Nachbarin (Grace Zabriskie, die wir kennen aus Lynchville), die mit riesigen Augen, seltsamen Sprüchen und einem offenkundig osteuropäischen (polnischen) Akzent ein böses Spiel eröffnet. Es beginnt mit dem üblichen Smalltalk, dessen Doppelbödigkeit noch nicht bemerkt werden muss („I hear you have a new role“), und findet sich zu zwei kleinen Parabeln, polnischen Märchen, angeblich: Als der Junge hinaus in die Welt ging, um zu spielen, wurde das Böse geboren und folgte ihm. Als das Mädchen hinausging, um zu spielen, verlor es sich auf dem Marktplatz. Die Frau scheint von Nikki Grace viel zu viel zu wissen, um eine harmlose Nachbarin zu sein. Und noch etwas nimmt sie vorweg, den Fall einer zivilisierten Konversation in die Welt der schmutzigen Wörter. Dass sie „that kind of talk“ nicht dulden mag, sagt Nikki, was sich auf die obszönen Wörter wie auf die Prophetien des Gastes beziehen mag. Denn die „Nachbarin“ hat Nikki davor gewarnt, die Rolle anzunehmen, die ihr für das Projekt „On High in Blue Tomorrows“ angeboten ist. Dort, sagt sie, warten die Dämonen. Wie wahr.
Eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte
Das „Orakel“ der „neuen Nachbarin“ ist nicht nur eine Darstellung dessen, was in der Welt des (kinematografischen) Rollenspiels geschieht, es ist eine Deutung des Kommenden, wenn auch weder die einzige noch gar die „richtige“. Aber die einfachste Zugangsweise zu Inland Empire ist, das Gespräch zwischen der Nachbarin und Nikki Grace gleichsam Wort für Wort als Modell für das kommende Geschehen zu benutzen wie auch die Konstellation der „Rabbits“-Show. Es ist, genauer gesagt, eine Prophezeiung, die Nikki genug versteht, um sie mit Angst zu erfüllen, und zu wenig, um sich gegen das kommende Unheil zu wappnen. „Ees eet about marriage?“, fragt die Nachbarin nach der listigen Art der Hexen. Genau darum wird es gehen. Wieder also erzählt der Film die Geschichte einer Schauspielerin, die bei der Filmarbeit die Rückkehr in die Wirklichkeit verpasst und immer tiefer von einem Albtraum in den anderen fällt, aber er erzählt zugleich die Geschichte einer Ehe, eines Betruges, einer Eifersucht und eines Mordes.
Die Proben für den Film beginnen. Der Regisseur Kingsley, gespielt von Jeremy Irons als sehr britisches Selbstzitat, erklärt, dass der Film schon einmal in Polen gedreht werden sollte. Aber die beiden Hauptdarsteller wurden ermordet, und die Dreharbeiten abgebrochen. Die Story gehe im Übrigen auf eine alte Zigeunerlegende zurück, als sei das noch nicht Fluch genug. Aber Nikki und ihr Co-Star Devon lassen sich ihre Chance davon nicht nehmen; für Nikki ist es vor allem eine Chance für ein Comeback, die letzte vielleicht. Aber etwas anderes ist offensichtlich noch wichtiger: Die Ehe an der Seite des eifersüchtigen reichen polnischen Mannes (Peter J. Lucas) kann sie nicht ausfüllen, das Spielen vor der Kamera ist ihre einzige Chance, der Unzufriedenheit, ihrem Gefängnis zu entkommen. Es geht nicht nur um die Karriere, es geht um das Leben.
Aber der Mann erkennt die Gefahr. Wenn sie eine Affäre mit Devon beginne, so warnt er sie, werde das ernste Konsequenzen haben. Nikki sehnt sich danach, diese Grenze zu überschreiten, und so verliert sie die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit am Leitfaden der Sexualität. Der Albtraum, oder die Abfolge der Albträume, das ist, wir sind noch auf der Ebene der einfachen Erklärungen, das Ineinander von Begehren und Verbot. Das Umkreisen von Lust und Angst. Traumarbeit. Ausgelöst von einem der dunklen Väter, die ihren Besitz, die Frau, mit unsagbarer Gewalt zu behaupten pflegen in Lynchville. Ob nun Nikki und Devon eine Affäre miteinander haben oder doch „nur“ Sue und Billy, die Figuren, die sie spielen, das verliert seinen klaren Unterschied. Aber das ist nicht so verwunderlich. Träumen wir nicht, was wir nicht leben dürfen? Und träumen wir nicht für jede Sünde auch die Strafe mit?
Das Ganze ist ja auch deutbar als ein Märchen, von Hänsel und Gretel vielleicht hat auch die Nachbarin gesprochen, oder ist Nikki Grace ein neues Schneewittchen, das von der bösen Hexe den vergifteten Apfel erhalten soll? Erinnern wir uns, er bestand aus einer gesunden und einer tödlichen Hälfte. Und darum muss Schneewittchen fliehen, in eine Wildnis, wo sie, zum Beispiel bei sieben Zwergen (bei sieben Huren, sieben Tänzerinnen des „Loco-Motion“) Zuflucht sucht, fliehen davor, ermordet zu werden oder selbst zur Mörderin zu werden. Zweifellos hat sie eine Doppelgängerin (aber die Doppelgängerin hat wiederum eine Doppelgängerin); ein alter Film spukt in einem neuen, einer, der nie beendet wurde, in einem, der gerade entstehen soll.
Mehr und mehr vermischen sich Film, Wirklichkeit und Film-im-Film. Von einer Tür zur anderen wird die Situation der Heldin trostloser und verzweifelter, mehr und mehr muss sie sich als vollkommen allein gelassen empfinden, mehr und mehr ist Angst ihr Begleiter. Hinter der eher melodramatischen Geschichte von „On High in Blue Tomorrows“ lauert eine andere, finstere Geschichte. Sue Blue oder Nikki Grace, Gnade oder Dunkelheit, befinden sich dabei in einem dunklen Haus, zusammen mit einer Gruppe von Frauen, ein Chor von Huren, und sie verbinden die Geschichte mit einer anderen, die in einer winterlichen polnischen Stadt, irgendwann in den Dreißigerjahren spielt, und auf dem schmutzigen Hollywood-Boulevard der Gegenwart. Und von da an zurück zur Herstellung eines Films. Worum es indes immer geht: die Macht der Männer und die Leiden der Frau.
Nikki „stirbt“ vor der Kamera, und Lynch gönnt ihr, in der Gemeinschaft Gestrandeter auf der Straße, die alle wieder ihre Geschichten haben, eine bemerkenswert schöne Szene. Aber so endet Lynch nicht – noch einmal muss Nikki die Seiten wechseln, und sie wechselt konsequent auf die der Zuschauer. Im Kinosaal schaut sie sich selber auf der Leinwand an, diesen Raum zwischen dem Film und uns hat Lynch bislang ausgespart, und sie fällt sogleich zurück in den Traum (in den Kaninchenbau unter dem Kaninchenbau); umgekehrt endet der Film mit einer direkten Ansprache der Schauspieler an die Zuschauer, sie müssen uns versichern, dass es „nur“ ein Film war (und natürlich nährt genau diese Versicherung den Zweifel daran). Die beiden Frauen verabschieden sich gleichsam vor dem Vorhang; „hot weird“ sagt die eine, wie um das Urteil des Zuschauers vorwegzunehmen.
Wie Mulholland Drive kann man auch Inland Empire vergleichsweise einfach in seiner Komposition beschreiben: Es ist eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, die mehr oder weniger die Geschichte ist, die vor der ersten Geschichte lag. Die Anzahl der Pforten entspricht der Anzahl der inneren Geschichten, diese wiederum entspricht der Anzahl der medialen Spiegelungen; zwischen den Geschichten gibt es wiederum die gleiche Anzahl von Beziehungen. Am Ende hat sich eine Geschichte buchstäblich enthüllt, indem sie ihre eigene Geschichte erzählt hat, die wiederum … Wie gesagt, es ist eine durchweg logische und konsistente Konstruktion. Aber damit ist nicht mehr gesagt als die Behauptung, eine Chopin-Etüde folge einer musikalischen Logik, um genau dorthin zu gelangen, wo auch die musikalische Logik nicht mehr zählt.
In Inland Empire ist Lynchs Kino zum Kino der Frau geworden, die das Kunstwerk in die Welt bringt, unter Schmerzen, gewiss. Laura Dern ist dabei die perfekte Lynchian woman; es ist nicht nur ihre Wandlungsfähigkeit und ihr Mut zur Entäußerung, sondern vor allem die Bereitschaft, das Subjekt und das Objekt des Märchens der Exploration zugleich zu sein. Komplizin in einer Forschungsreise und Opfer gleichermaßen. Lynch bedankt sich mit einer Zärtlichkeit, die er bislang noch keinem seiner Frauencharaktere gegenüber gezeigt hat; er zeigt das Leiden der Frau diesmal ganz ohne den Sadismus, den er vorher gelegentlich entwickelte. Man könnte fast meinen, Inland Empire sei ein Bild der Angst, das sich selber von der Angst befreit. Ein Lynch-Film, der zu einem Laura-Dern-Film wird. Vielleicht könnte man aber auch einfach behaupten, Inland Empire sei David Lynchs erster Liebesfilm.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film 4/2007
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