Die „Schwarzwaldklinik“ kehrt zurück
„Die Schwarzwaldklinik“ gilt als eine der Ursünden in der Verwandlung des deutschen Fernsehens. Von einer verzapften Bildungsanstalt mit volkstümlichen Blasen wurde es seitdem zu einem schrillen Regressionsapparat mit Trash-Appeal. Die Serie hatte es anscheinend darauf angelegt, alle Klischees der Kitschproduktion von der Gartenlaube über den „Halbgott in weiß“-Mythos, den Heimatfilm, amerikanische Familienserien bis hin zum „Sozialklimbim“ der mitfühlenden 1970er Jahre gleichzeitig zu bedienen. Die einen heulten und lachten mit Professor Brinkmann und den seinen, die anderen kämpften mit kulturellem Brechreiz. Nicht nur weil Postkarten-Idylle plus Seifenoper plus deutsches Patriarchen-Pathos ziemlich hoch in der Peinlichkeits-Skala rangiert, sondern auch weil die „Schwarzwaldklinik“ so freigiebig weißkittelig und Rosen umrankt Metaphern für die dritte bundesrepublikanische Restauration absonderte. Die Serie führte offensichtlich an einen inneren Endpunkt der deutschen Gesellschaft, dorthin wo das „Mehr Demokratie wagen“ in den „Abbau von Humankapital für den Wirtschaftsstandort Deutschland“ umkippte. Die kommende Kälte war schon spürbar in jenem Jahr 1985, aber es begann zuerst eine Latenzphase, die später den Namen „Kohl-Ära“ bekam, 16 Jahre der Lähmung und Blendung vor der Katastrophe.
Die „Schwarzwaldklinik“ war der radikale Gegenentwurf zu den zynischen Spielen mit der sexuellen Ökonomie in den amerikanischen Serien „Dallas“ und „Denver“, aber auch zur mehr oder weniger „kritischen“ „Lindenstraße“, die im selben Jahr ihren Einstand in deutschen Vorabenden feierte. Oder war es doch nur ein anderes Erscheinungsbild der mittlerweile dringend benötigten einäugigen Trostmaschine?
Umberto Ecos Vorstellung von der Spaltung der Kritiker in Apokalyptiker und Angepasste lässt sich kaum an einem Beispiel so schön belegen wie anhand der Fernsehkritik angesichts der Erfolgsgeschichten der neuen deutschen Kitschserien in der Mitte der 1980er Jahre. Die Angepassten entwickelten ein spöttisch-verständnisvolles Idiom, und für sie wurde der alles und nichts erklärende Begriff „Kult“ erfunden. Die „Schwarzwaldklinik“ war auf jeden Fall „Kult“. Die Apokalyptiker aber sahen vor allem die Rückkehr des Muffs aus den fünfziger Jahren und ein entsprechendes Absehen von gesellschaftlicher Realität nebst Reformation patriarchaler und auch sonst erzreaktionärer Weltbilder, vom Niedergang der Schauspielkunst ganz zu schweigen. Natürlich hatten mal wieder beide Fraktionen unrecht. Oder es hatten beide ein bisschen recht, wie man es nimmt. Denn, was immer man von der „Schwarzwaldklinik“ auch sagen mochte, allem Anschein nach wurde nirgendwo verborgen, worum es ging: Kitsch, aber ehrlicher Kitsch. Jedenfalls war die Serie „Schwarzwaldklinik“ ein Modell dafür, dass ein mediales Produkt sein eignes Konstruktionsprinzip und seine eigenen Absichten völlig ungeniert ausstellen und dennoch reibungslos funktionieren kann. Der Drehbuch-Aufbau folgt dem ersten Kapitel des Lehrbuchs für angehende Serien-Autoren (Hauptgeschichte, Nebengeschichte, Vorbereitung der nächsten Geschichte nach dem immer gleichen 3er-Schema), die Charakter-Entwicklung (wandelbare Hauptfigur, unwandelbare Nebenfigur, Gastfiguren mit eigener Aura etc.), ist nicht minder verlässlich, die Regie (wie vom allseits Genre-erfahrenen Alfred Vohrer) scheint sich auf Anweisungen wie „mehr davon“ und „nicht so schüchtern“ zu beschränken, und die Perlenketten-Elemente der Narration sorgen für den Rest der emotionalen Bindung (die Abwechslung von Elementen des Immerwiederkehrenden mit dem „Außergewöhnlichen“, einschließlich sensationeller Gastauftritte wie der von Heinz Rühmann, einschließlich der mehr oder weniger gezielten Grenzüberschreitung wie in der skandalösen Vergewaltigungs- und Selbstjustiz-Folge. Ihr bekommt genau das, was ihr wollt, zuverlässig und spannend, und ihr bekommt es in einer Dosierung, die alle Scham vertreibt, so scheint jede Folge zu sagen. Und: Ihr wisst so genau wie wir, worauf wir uns da einlassen. Sagt nicht, Ihr hättet nichts gewusst. Vielleicht also ist die „Schwarzwaldklinik“ nicht nur die Rückkehr der muffig-bunten Wirtschaftswunder-Ästhetik, sondern auch die Vorahnung des postmodernen Fernsehens gewesen.
Anders als in den amerikanischen Serien ähnlicher Machart sahen die Charaktere in der „Schwarzwaldklinik“ nicht aus wie durch plastische Chirurgie in der Lebensmitte festgeschriebene Klone von Barbie und Ken, sondern wie richtige Menschen. Sie waren sogar so richtig, dass man Witze machen konnte über das eine oder andere physiognomische Detail, auch wenn das eigentlich genauso geschmacklos und dumm war wie im richtigen Leben. Und übrigens konnte man auch nie sagen, dieses käme etwa in der Schwarzwaldklinik nicht vor. Oh nein, im Glottertal ging das echte Elend nicht vorüber. Aber es durfte sich hier nicht festsetzen. War diese Serie also auf die ehrlichste Art verlogen oder doch auf die verlogenste Art ehrlich?
Das Projekt „Schwarzwaldklinik“ war ein herausragendes Modell in einem ästhetisch-politischen Umbauprozess, dessen Ziel die Verwandlung der alten, geschlossenen Kitsch-Systeme wie die Heimatfilm, Lore-Roman, Schlagerwelt und Frau im Spiegel in die neuen, offenen Kitsch-Systeme des beginnenden Neoliberalismus. In einem geschlossenen Kitsch-System, wie zum Beispiel dem deutschen Heimatfilm der fünfziger Jahre, gibt es nur Scheinprobleme und einen Glückscode, als Sonnenuntergänge, Sennerinnen, Sommerfrischler und Dulljöh meinetwegen. Auch im offenen Kitschsystem der neuen deutschen Serien der achtziger Jahre gibt es solche Codes, Sonnenuntergänge, Ärzte, Wald und Dulljöh. Aber es gibt hier zur gleichen Zeit Rauschgiftsucht, Arbeitslosigkeit, Insolvenz und Magenkrebs. In ein geschlossenes Kitschsystem (wie, sagen wir, Fußballspiel oder Asterix-Comics) zieht man sich für eine Zeit zurück, um dann in die Wirklichkeit zurückzukehren. Das offene Kitschsystem dagegen vermischt den Kitsch-Code und den Alltags-Code so irreversibel, dass man nie mehr genau weiß, wo man sich gerade befindet. Prompt reisen die Hartnäckigen ins Glottertal, um die echte Schwarzwaldklinik zu besichtigen oder wenden sich wegen des unangenehmen Ziehens im Rücken Rat suchend an Dr. Brinkmann. Die weniger Hartnäckigen glauben wenigstens an Gesundheitsreform und sichere Renten.
Für den gesellschaftlichen und ökonomischen Umbau der Republik war diese Verwandlung von geschlossenen Systemen zu den offenen Systemen des Kitsches von zentraler Bedeutung. Ein neuer Pakt war da zu schließen. Und wie er geschlossen wurde! 70 Folgen der „ersten deutschen Arztserie“ wurden zwischen 1985 und 1989 gedreht, es gab Einschaltquoten von bis zu 64 % und einen regen Devotionalienhandel mit Büchern, Musik und Andenken. Die Mitte der Gesellschaft, so schien’s, hatte sich in einem Medienereignis versammelt: Die Schwarzwaldklinik war das Idealbild von Deutschland. Da wurde, unter anderem, genau bestimmt, wen wir reinlassen und wen nicht, wessen Rat teuer und wessen Aussehen billig war. Für eingefleischte Apokalyptiker konnte das nur heißen: Wenn Deutschland wirklich so aussieht wie die Schwarzwaldklinik, dann gute Nacht.
Die „Schwarzwaldklinik“ musste noch den Kitsch-Faktor in seinem Retro-Aspekt offensiv ausstellen; es war, ungefähr wie die bald darauf einsetzende Welle der „volkstümlichen Musik“, eine Art von Trotz-Kitsch. Man sehe sich etwa den Schriftzug an, das branding der Serie und ihrer Merchandising-Artikel mit der bewusst an die Romanhefte angelehnten Ästhetik, die treuherzigen Statements und, mein Gott, diese Farben! Diese Spruchweisheiten! Diese netten Dienstboten, diese großbrüstig-drakonischen Oberschwestern, und die liebenswerten „Kriegsdienstverweigerer“. Das deutsche Publikum schien zur Zeit der „Schwarzwaldklinik“ so kitschhungrig, dass man, wie nach allzu langem Fasten, Senfgurken und Pralinen gleichzeitig in sich stopfte. Die Kitsch-Serien der Nachfolge von „Schwarzwaldklinik“ hatten solchen aggressiven Touch von „kitschig und stolz darauf“ gar nicht mehr nötig. Sie wirken ohnehin wie Verbindungen diverser Reise- und Werbeprospekte mit einer Soap Opera, und die Kitschsysteme sind längst so offen, dass ohnehin niemand mehr weiß, wo das Leben aufhört und das Fernsehen anfängt – oder umgekehrt.
Zurück in die „Schwarzwaldklinik“ könnte jetzt gar eine nostalgische Flucht vor dem sein, was damals begann und bald nicht mehr zu stoppen war. Eine einzige Sendung nur, so hat uns Produzent Wolfgang Rademann versprochen, ein Wiedersehens-Fest. Wer’s glaubt. „Ein Krankenhaus so richtig zum Knuddeln!“ heißt es im Feature, das beim ZDF der neuen Geschichte vorweggeschickt wird. „Hier haben die Ärzte noch den Durchblick und die Patienten den nötigen Respekt. Hier hat keiner was zu lachen. Eine schrecklich nette Familie. Und vor allem: so harmonisch“. Ist natürlich witzig gemeint, wie die dazu montierten Szenen betonen. Das Feature zeigt dann auch, was die, nun ja, Handlung des Jubiläums-Specials (vor der Wiederholung aller Folgen) wiederholt: Bei einem familiären Wiedersehens-Fest ist die gute Laune zwischen Rührung und Peinlichkeit immer nahe an der Hysterie. „Man hat immer Probleme“ weiß der weise Professor Brinkmann seinem Sohn in „Die Schwarzwaldklinik – Die nächste Generation“ zu sagen, das ist natürlich so was von wahr, und in der Zeit von Hartz 4 und Ich-AG ist die Botschaft tröstlich: die Jungen beißen sich durch, und der Rat der Alten wird noch gebraucht. Aber ist die Ausrichtung der Hochzeit nicht ein bisschen, sagen wir mal: leicht disproportional? Diese Thurn&Taxis-Verbindung von Reichtum und schlechtem Geschmack beweist jedenfalls eines: Die „Zeiten knapper Kassen“ sind an der Familie Brinkmann und an der Produktion deutscher Kitschserien vorübergegangen. Und was meint Sascha Hehn zu dem Spaß, den natürlich die Arbeit wieder mal gemacht hat? Er hat sich gewundert, dass alle Beteiligten „so gut konserviert und gut drauf warn“. Ist diese Gespenster-Parade also eine Wiederkehr der Retro-Ästhetik der Nostalgie der Restauration, oder ist sie schon das Dämmern des post-postmodernen Fernsehens, in dem der Kitsch-Kult tief in die „Medien-Biografie“ eingebrannt wird.
„Schwarzwaldklinik“? Damals wohnten wir noch in der Mietwohnung; zum Fernsehen gingen wir ins Wohnzimmer, und bei der Folge mit Nadja Tiller kam Vater – nein, das gehört nicht hierher.
Autor: Georg Seesslen
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